Mädchen im Moor
Mannschaftswagen, zackig und blankgeputzt, betrachten uns Moorleute wie Urmenschen und glauben, sie seien die Halbgötter, nur weil sie sich täglich einmal rasieren, und dann: Mein guter Mann … das Moor ist doch flach wie ein Tisch. Scheiße ist es, Herr Polizeileutnant. Das Moor ist das herrlichste und geheimnisvollste Land unter Gottes Sonne. Man muß es nur kennen –
»Wenn Sie es sagen –«, antwortete Fiedje Heckroth laut. »Dann suchen Sie den Krümel mal auf dem glatten Tisch.«
Dr. Schmidt legte die Hände auf den Rücken. Er kannte seine Moorbauern und wußte, daß man so zu nichts kam.
»Seien wir vernünftig, meine Herren. Heckroth, Sie haben im Moor vier Winterverschläge und drei Kähne. Da kann sich doch jemand verstecken.«
»Nee.« Fiedje Heckroth schüttelte den Kopf. »Die liegen mitten drin! Da kennt nur meine Frau und ich den Weg. Aber nicht Vivian. Da gibt's nur schmale Pfade … da versäuft sie bei einem Schritt zur Seite –«
»Und sonst? Überlegen Sie doch mal! Im Birkenwald.«
»Das geht.«
»Ist durchgekämmt«, sagte der Leutnant knapp. »Keine Spur.«
»Im Hauptabstichgebiet.«
»Fehlanzeige!« warf der andere Leutnant ein, ehe Heckroth antworten konnte. »Wir haben nach der Karte bereits alle festen Plätze kontrolliert. Nichts! Aber das Mädchen kann sich ja nicht in Luft auflösen. Sie muß noch im Moor sein.«
»Und warum?« fragte Heckroth bescheiden.
Die Offiziere sahen sich an. Die Leute hier in der Einsamkeit haben ein genauso langsames Denken, wie der Himmel über ihnen weit ist. Man muß es ihnen nachsehen.
»Weil ein Mensch ohne Karte nicht aus dem Moor hinaus kann außer über die bekannten festen Wege. Und die sind abgeriegelt. Die Flucht ist schätzungsweise gegen vier Uhr morgens erfolgt, denn um drei Uhr ist die Patientin Erika Brunnert noch auf der Toilette gewesen und hat Vivian v. Rothen in ihrem Bett liegen sehen. Entdeckt wurde die Flucht um sechs Uhr morgens beim Wecken.«
»Das sind zwei Stunden. Da kann man weit sein.«
Die Polizeioffiziere wandten sich ab. Rechnen können wir auch, dachten sie. Aber in zwei Stunden zu Fuß im Moor kommt man nicht weit. Und ein Auto kann sie nicht mitgenommen haben. Hier, durch das Wildmoor, fahren nachts und frühmorgens keine Autos, außer denen der Bauern. Sie muß also noch im Moor sein, irgendwo hingeduckt wie ein gejagter Hase.
Im Hof von Gut Wildmoor hatten sich mittlerweile zwanzig Bauern versammelt. Die große Treibjagd konnte beginnen. Man wollte das gesamte Moor durchkämmen, jeder Bauer in Begleitung von zwei Polizisten in seinem Gebiet. Über Telefon hatte sich für den Nachmittag bereits Ministerialdirektor Dr. Fugger angemeldet. Die Meldung Dr. Schmidts hatte wie eine Bombe eingeschlagen.
»Um Gottes willen!« hatte Dr. Fugger geschrien. »Auch das noch! Der Herr Minister ist wohlwollend wie nie, alles schwimmt in guter, brauner Butter – und nun reißt dieses Luder auch noch aus! Rufen Sie sofort Dr. Schmidt an, daß ich nach dem Mittagessen komme. Und völlige Informationssperre! Keine Zeile an die Presse! Keine Suchmeldung in Funk oder Fernsehen. Das muß intern geregelt werden. Ganz intern.«
Da er es als seine Pflicht ansah, die wichtigste Person in diesem skandalösen Fall zu informieren, rief Dr. Fugger anschließend Holger v. Rothen an.
Aus einer Konferenz wurde er hinausgerufen, warf sich sofort in seinen Wagen und ließ sich nach Wildmoor fahren.
Vivian geflüchtet! Das war unmöglich! Das tat Vivian nicht! Etwas anderes mußte dahinterstecken, das man mit dieser amtlichen Meldung verschleiern wollte.
Holger v. Rothen traf auf Gut Wildmoor ein, als die Polizeitruppe mit ihren zwanzig Bauern als Führer hinaus ins Moor marschierte, eine große Streitmacht gegen ein durch den Sumpf irrendes Mädchen.
»Es ist die Wahrheit, Herr v. Rothen«, sagte Dr. Schmidt, als er allein mit dem Vater Vivians am Rauchtisch saß und sie zusammen einen Kognak tranken. Die Hände v. Rothens zitterten so stark, daß der Alkohol über den Glasrand schwappte. »Vivian ist ausgebrochen. Aus der Isolierstation.«
»Isolierstation?« Der Blick v. Rothens war wie der eines waidwunden Rehs. Dr. Schmidt sah an ihm vorbei.
»Ja.« Seine Stimme war hart. »Sie und ich, ja wir alle haben uns in Vivian getäuscht. Oder besser: Wir haben uns von ihr täuschen lassen. Unser Vertragsarzt Dr. Röhrig mußte Ihre Tochter isolieren, weil sie sich frisch mit Syphilis infiziert hatte –«
»Nein!« Es war ein
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