Mädchen im Moor
erschütternder Aufschrei, der abbrach, als drücke ihm jemand die Kehle zu. Holger v. Rothen war aufgesprungen, nun schwankte er leicht und griff sich ans Herz. »Das ist doch nicht möglich –«
»Das habe ich auch gesagt.« Dr. Schmidt starrte in sein Glas. »Aber die Diagnose ist völlig klar. Vivian war einige Monate auf Außenkommando. Sie wissen es ja. Dort muß es passiert sein. Sie weigert sich, zu sagen, wer es war. Ich vermute, ihre Flucht hängt damit zusammen. Sie will zu diesem Mann!«
v. Rothen ließ sich schwer in den Sessel zurückfallen und wischte sich mit dem Taschentuch über die Augen. »Meine Tochter eine Verbrecherin und Hure –«, sagte er leise. »Mein einziges Kind … womit habe ich das verdient –«
»Das fragen sich alle Eltern, Herr v. Rothen. Und es ist eine jener Fragen, die niemand beantworten kann. Natürlich gibt es eine Klassifizierung. Da ist der Straffällige aus dem sozial niedrigen Milieu, ohne Elternhaus, ohne Erziehung, aufgewachsen im Schmutz, von Kind auf Zeuge der Ausschweifungen der Erwachsenen, wie Hilde Marchinski und Käthe Wollop … und da ist der Typ des Wohlstandsverbrechers, dem alles zufällt, was die Welt zu bieten hat und der vor Langeweile und Ekel und Übersättigung zum Asozialen wird. Das ist eine neue, erschreckend häufige Form von Verbrechern in unserer modernen Gesellschaft. Dazu gehörte Vivian. Ich sage da nichts Neues.«
Holger v. Rothen nickte schwer. »Aber das … das letzte … Das ist nicht Vivians Charakter. Sie war leichtsinnig, aber nie schlecht. Ich verstehe alles nicht mehr.«
»Ich, ehrlich gesagt, auch nicht.« Dr. Schmidt trat ans Fenster. Der Innenhof war leer. Die Suchtrupps schwärmten draußen durch das endlose Moor. »Gebe Gott, daß wir sie finden –«
»Und … und wenn nicht?«
Dr. Schmidt hob die Schultern. »Was das Moor einmal genommen hat, gibt es nicht wieder her.«
Dann lag Schweigen über ihnen. Sie wußten, was die nächsten Stunden bringen mußten. Entweder fand man Vivian v. Rothen, oder sie würde für immer vermißt werden. Ein Mensch, der sich in Nichts aufgelöst hatte.
Ein Klopfen unterbrach ihre stummen Gedanken. Julie Spange, die Heimmutter 2, trat ein, hinter sich Monika Busse.
»Ich habe eine Meldung zu machen«, sagte Frau Spange amtlich. »Monika Busse hat eine Aussage zu machen –«
Dr. Schmidts Kopf flog herum. Auch Holger v. Rothen schnellte aus dem Sessel hoch.
»Du weißt, wo Vivian ist?« rief er.
»Nein.« Monika schüttelte langsam den Kopf. Man sah, wie sie mit sich rang, und Dr. Schmidt ließ ihr Zeit, mit sich ins reine zu kommen. »Ich – ich muß etwas verraten. Ich hätte es nie getan, ich habe geschworen, es nie zu sagen … aber ich kann nicht mehr schweigen. Ich tue es nur, um Vivi zu helfen.«
Sie schwieg wieder, und die anderen Anwesenden unterbrachen diese Stille nicht. Sie fühlten: Nun gab es eine Entscheidung.
Monika atmete tief auf. Dann sagte sie klar: »Vivi hat eine genaue Karte vom Moor. Sie kann sich nie verirrt haben. Sie hat diese Karte von Hilde Marchinski, und die hat sie zu Weihnachten von Willi bekommen … in einzelnen Teilen, eingebacken in Zimtsterne –«
»Man soll es nicht für möglich halten!« schrie Dr. Schmidt und hieb mit der Faust auf den Tisch. Auch Julie Spange war hochrot geworden. In Zimtsternen eingebacken, eine Moorkarte! Die Wahrheit ist oft kitschiger als die kobolzschlagende Fantasie billiger Kriminalschriftsteller.
Dr. Schmidt rannte aus dem Zimmer. Auf dem Flur des Privattraktes hörte man seine laute Stimme. »Hilde! Sofort zu mir ins Büro! Sofort!«
Sekunden später stand Hilde Marchinski, in einer sauberen, bunten Kittelschürze, die roten Haare von der Putzarbeit zerwühlt, im Zimmer vor dem Schreibtisch. Mit einem Seitenblick hatte sie Monika Busse gestreift und wußte durch ein kurzes Augenblinkern, worum es ging. Bevor Dr. Schmidt seine erste Frage stellen konnte, sagte sie deshalb:
»Ja. Es stimmt. Ich hatte die Karte vom Pfeifen-Willi. Auf 'n Lokus hatte ich sie versteckt, in 'nem Plastikbeutel, in dem sonst die Watte ist. Ick hatte mal vor auszukneifen. Aber nu is alles vorbei. Ick will ja hierbleiben. Willi ist 'ne Sau und meine Mutter eine noch größere. Bei Ihnen fühl ick mir wohl. Und die Vivian –« sie blickte hinüber zu dem bleichen Holger v. Rothen – »jawoll, Ihre saubere Tochter, Herr Millionär, dieses Aas hat mir die Karte jeklaut. Aus 'n Lokus. Ick wollt ihr die Fresse polieren, aber dann kam ja
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