Mädchen im Schnee
Stirn. Nein, kein Blut, aber sie tat weh. Und zwar richtig. Das würde sicher eine anständige Beule geben. Ein Knie schmerzte auch.
Langsam zog sie sich am Geländer hoch. Doch, sie konnte auch auf dem Bein stehen, aber es tat weh.
Magdalena hinkte über den Parkplatz zum Auto. Ehe sie sich einstieg, warf sie einen Blick zurück auf das Miets haus. Die ganze Front war dunkel, abgesehen von der Woh nung über Tores, wo ein schwacher Lichtschein durch die heruntergezogenen Rollos drang.
Plötzlich ging das Rollo am Küchenfenster langsam hoch. Magdalena konnte deutlich zwei Männer erkennen, die in ihre Richtung schauten.
Was habe ich nur getan?, fragte sie sich, als sie die Autotür zuschlug und den Zündschlüssel drehte. Beim Zurücksetzen zitterten ihre Beine so sehr, dass sie den Motor abwürgte.
Die Männer standen immer noch da und sahen ihr nach.
Nils holte den Schlafanzug mit dem Spiderman-Aufdruck unter dem Kopfkissen hervor. Magdalena sah ihm zu, wie er das Oberteil über den Kopf zog und sich durch die Ärmel nestelte.
»Mama, was hast du denn an der Stirn gemacht?«, fragte Nils und zeigte auf die Beule.
»Ich bin nur hingefallen, nichts Schlimmes.«
Magdalena zog das Rollo herunter. Nils runzelte die Stirn.
»Tut es sehr weh?«
»Nein, ich spüre das gar nicht«, log Magdalena. »Jetzt spring mal ins Bett, Schatz. Es ist schon superspät.«
Nils kroch unter die Decke. Die Haare, zum Seitenscheitel gekämmt, waren nach dem Bad immer noch feucht.
»Oma wohnt im Himmel, oder?«, fragte er plötzlich.
Magdalena hatte schon angefangen, seine Kleider zusammenzufalten, und hielt inne.
»Ja, doch, das tut sie.«
»Kerstin sagt, Oma würde in ihrem Grab auf dem Friedhof liegen.«
»Das glauben alle Menschen unterschiedlich. Ich finde, es ist ein schöner Gedanke, dass sie oben im Himmel ist. Was meinst du?«
»Ich glaube auch, dass sie im Himmel ist«, sagte Nils und sah zur Decke hinauf. »Sieht sie alles, was wir machen?«
»Ja, das glaube ich.«
»Auch nachts, auch wenn es total dunkel ist – kann sie uns dann auch sehen?«
»Ich bin sicher, dass sie uns die ganze Zeit sieht. Auch nachts.«
Nils verstummte, den Blick noch immer an die Decke geheftet.
»Du, Mama.«
»Ja, was ist?«
»Wie alt warst du, als Oma in den Himmel gegangen ist?«
»Elf Jahre.«
Nils wandte den Blick von der Decke zu Magdalena.
»Dann warst du ja jünger als Amy Diamond.«
»Ja, ich war jünger als Amy Diamond.«
Nils dachte nach.
»Stirbst du bald?«
»Nein, mein Schatz, das werde ich nicht tun.«
»Wie kannst du das wissen?«
»Natürlich kann man das nicht wissen, aber ich finde, du sollst dir deswegen keine Sorgen machen.«
Magdalena strich ihm über die Wange. »Meinst du, du kannst jetzt schlafen?«
Nils nickte.
»Dann gute Nacht, mein Schatz.«
»Gute Nacht.«
Magdalena ging und lehnte die Tür an. All diese Fragen, die ohne die kleinste Vorwarnung auftauchten. Warum dachte Nils über so komplizierte Dinge nach, wenn die Zeit unpassend war, um darüber zu sprechen? Es war schon nach halb zehn und höchste Zeit für ihn zu schlafen. Sie sollte mit Nils mal zum Grab ihrer Mutter gehen und dann richtig über das alles reden.
Was für eine Angst ich gehabt habe, dachte sie, während sie Nils’ Stiefel auf das Schuhregal stellte. Das muss eine Art Bordell sein. Warum gehen da sonst so viele Männer ein und aus? Und dann diese Mädchen …
Sie sollte die Polizei verständigen.
Großmutter, ich war wie besessen von diesem Hotelprospekt, den Leonardo uns dagelassen hatte. In jeder freien Minute blätterte ich darin. Die Bilder waren magisch. Ana fand sie auch schön, am besten gefielen ihr die blauen Bassins und die weichen, geblümten Tagesdecken, die ganz glatt auf allen Betten lagen.
Aber Großmutter, ich war wirklich besessen. Wenn ich da arbeiten könnte! Ich stellte mir vor, wie schön ich in dem weißen Hemd mit doppelter Knopfleiste aussehen würde, während ich frisches Brot in die großen Körbe im Frühstückszimmer füllte, oder wie es sich anfühlen würde, auf dem weichen Teppich zu laufen. Und dann dachte ich an all das Geld, das wir dir würden schicken können.
Als Ana sagte, sie würde sich nicht trauen zu fahren, wurde ich fies. Ich habe die übelsten Dinge zu ihr gesagt, Worte, die ich noch nie zuvor ausgesprochen hatte.
Erst als ich sagte, ich würde auch ohne sie fahren, hat sie aufgegeben. Verzeih mir, Großmutter.
Ich wusste es nicht besser.
15
Magdalena legte
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