Mädchen im Schnee
geht es dir?«, fragte er.
Petra holte tief Luft.
»Meine siebzehnjährige Tochter wollte zu einer Freundin nach Karlstad fahren, aber wir haben seit Freitag nichts von ihr gehört. Es klingt richtig lächerlich, wenn ich das jetzt so sage, ich höre es selbst. Aber nach dem toten Mädchen im Erdkeller, und … Ja, man wird leicht etwas komisch, wenn man selbst Kinder in dem Alter hat.«
Folke nickte kurz.
»Aber, versuch trotzdem, dir keine Sorgen zu machen«, sagte er dann.
Petra versäumte es, vor der Kreuzung ausreichend abzubremsen, und der Wagen ragte beunruhigend weit in die rechte Fahrbahn hinein.
Als sie ins Dorf kamen, konnten sie vor dem aufgegebenen Dorfladen schon den Streifenwagen stehen sehen. Urban Bratt lehnte an der Tür und wartete.
»Fahrt hinter mir her«, sagte er. »Es sind noch ungefähr vier, fünf Kilometer. Und es ist ganz in der Nähe von der Stelle, wo das andere Mädchen gefunden wurde. Ich muss euch jetzt schon sagen, dass es kein schöner Anblick ist.«
Petra schloss die Augen.
Zwischen den Tannen war bereits ein kleiner Pfad ausgetreten, auf dem Petra hinter Folke und Urban herstapfte. Nach rund fünfhundert Metern konnte man die gestreif ten Absperrbänder sehen. Petra fühlte sich völlig kraft los, als wären ihre Beinmuskeln total übersäuert, und sie wusste nicht, wie sie noch länger durchhalten sollte.
Folke drehte sich zu ihr um.
»Geht es?«, fragte er.
»Schon okay.«
Sie versuchte, kontrolliert zu atmen. Folke sah sie immer noch beunruhigt an.
Hinter dem Absperrband standen zwei Techniker aus Torsby über etwas gebeugt, das einem dunklen, formlosen Kleiderbündel glich. Sven Munther hob die Hand zu einem müden Gruß und ging ihnen entgegen.
Das schaffe ich nicht, dachte Petra. Das schaffe ich nicht.
Langsam näherte sie sich dem Bündel und den gebeugten Rücken der Kollegen, ohne Folkes Blick länger wahrzunehmen.
Als sie noch etwa sechs Meter entfernt war, trat einer der Techniker zur Seite. Da lag kein Mensch, da lag ein Kadaver. Wo das Gesicht gewesen war, waren nur vereiste Fleischfetzen zu sehen. Ein Ohr konnte man noch erkennen, außerdem ein paar blutige Haarsträhnen.
Haarsträhnen, die hellbraun waren, nicht knallgrün.
Petra sank auf die Knie in den Schnee. Sie spürte nicht, wie Folke ihr die Hände auf die Schultern legte.
»Ist sie es?«
Petra schüttelte den Kopf.
»Nein.«
Petra schluchzte.
Munther kam auf sie zugestapft, eine Sorgenfalte zwischen den Augen.
»Was ist los, Wilander?«
Rasch wischte Petra sich mit dem Handschuh über die Augen. Sie war noch nie zuvor an einem Tatort zusammengebrochen.
»Ich hatte befürchtet, dass ich hier meine Tochter finden würde«, schluchzte sie und versuchte aufzustehen, doch ihr versagten die Beine. »Wir haben das ganze Wochenende nichts von ihr gehört.«
»Und warum hast du mich nicht zurückgerufen und mir das erzählt? Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich nie zugelassen, dass du dir das hier antust.«
Petra räusperte sich und versuchte, die Tränen aufzuhalten. Es war so unsäglich peinlich, vor seinem Chef im Schnee zu knien und zu weinen.
»Job ist Job«, entgegnete sie und kam schließlich mit Folkes Hilfe auf die Füße.
»Das mag zwar sein, aber jetzt schicke ich dich für den Rest des Tages nach Hause. Versuch mal, deine Tochter zu erreichen, und wir sehen uns morgen wieder.«
Munther wandte sich an Folke.
»Du fährst Wilander nach Hause, und dann kommst du gleich wieder hierher.«
Folke nickte.
»Danke«, sagte Petra.
Munther sah sie an, lächelte und schüttelte den Kopf.
»Kümmere dich jetzt erst mal um dich selbst.«
Petra und Folke arbeiteten sich schweigend durch den Schnee zurück. Hinter ihnen waren die Techniker zu hören, die ihre Scheinwerferstative aufbauten. Die nachmittägliche Dunkelheit sank allmählich zwischen den Bäumen nieder. Nach etwa hundert Metern begegnete ihnen Linus Saxberg von der Länstidningen . Er musste gemerkt haben, dass mit Petra etwas nicht stimmte, denn er wollte gerade den Mund aufmachen, um etwas zu fragen, sagte aber nichts und ließ die beiden weitergehen.
Ich sollte mich schämen, dass ich so furchtbar erleichtert darüber bin, dass die Tote die Tochter von jemand anderem ist und nicht die eigene, dachte Petra. Eines Tages werde ich meine gerechte Strafe bekommen.
Der Geruch von Zimt-Hefegebäck hing in der Küche, und die Fensterscheiben waren von der Hitze des Backofens beschlagen.
Als das Telefon klingelte,
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