Mädchen im Schnee
Erstes die Hand nach dem Handy ausgestreckt. Aber nein, immer noch nichts.
Hirngespinste, dachte sie. Ich muss die Arbeit und den Mord und Hedda Losjö loslassen. Dass Nellie nicht ans Telefon geht, heißt definitiv nicht, dass sie verschwunden ist. Oder tot.
Aber wo war sie bloß?
In der Vormittagssonne wirkte der Schnee so blendend weiß, dass Hanna Wiik die Augen zusammenkneifen musste. Sie konnte die schartige Spur kaum erkennen, die Papas Ski vor ihr hinterlassen hatten.
»Papa, warte auf mich!«, rief sie. »Ich seh fast nichts!«
»Das wird gleich besser, wenn deine Augen sich daran gewöhnt haben«, sagte er irgendwo vor ihr, den Rucksack auf dem Rücken, mitten in all dem Weiß. »Wenn wir im Wald sind, wird es schattiger.«
Hanna machte ein paar vorsichtige Skating-Schritte, das ging gut, und schon bald hatte sie ihn eingeholt. Sie fuhren weiter über die Wiese, er vorweg und sie hinterdrein. Hanna hatte sich die ganze Woche schon auf diese Barsch-Tour gefreut. Allein mit Papa. Ohne dass die kleinen Geschwister wie kreischende Wilde um sie herumtobten. Als sie die kleine Abfahrt erreichten, die zum Wald hinunterführte, fing sie an sich abzustoßen. Das Gleiten ging einwandfrei, sie wurde gar nicht müde, sondern sauste auf dem Schnee nur so dahin.
Papa arbeitete sich im Scherschritt auf der anderen Seite des Grabens wieder hoch und fuhr dann in dem alten Birkenwald weiter. Hanna mochte diesen Teil des Waldes. Im Frühjahr wuchs dickes, hellgrünes Gras zwischen den Stämmen, und im Sommer grasten hier Schafe.
»Glaubst du, dass wir einen Fisch fangen?«, rief ihr Vater und warf einen Blick über die Schulter.
»Ja, auf jeden Fall werden wir einen kleinen fangen, den ich dann Weißnase geben kann, wenn wir nach Hause kommen«, antwortete Hanna.
»Das wird dem kleinen Fettwanst gefallen.«
»Er ist nicht fett!«
»Ah, doch, bald werden wir Diätpillen für ihn kaufen müssen«, neckte der Vater sie.
Sie glitten weiter durch den Wald. Nun gab es keine Birken mehr, sondern nur noch hohe Tannen, deren Kronen sich sanft im Wind wiegten. Diese Tannen mochte Hanna gar nicht. Zum Glück war Papa dabei. Falls die Wölfe kämen.
»Du fährst zu schnell!«, rief sie. »Warte!«
Hanna wusste, dass es Wölfe gab. Natürlich kamen sie den Menschen nur selten nahe, aber als es Herbst geworden war, hatten sie an drei Abenden hintereinander die Wölfe heulen gehört.
»Die Wölfe haben viel mehr Angst vor dir als du vor ihnen«, hatte Mama sie zu beruhigen versucht.
Mama sagte immer die Wahrheit, aber Hanna hatte trotzdem schreckliche Angst. Sie stieß sich kräftig ab und schaute sich dabei ängstlich um. Fast jeder Stein, jede in die Luft ragende Wurzel schien sich auf den ersten Blick zu bewegen. Ihr Herz pochte laut unter dem Schneeanzug.
Endlich konnte sie die Schneefläche wieder zwischen den Bäumen hindurchschimmern sehen. Papa war schon am letzten Hügel, bevor das Eis kam.
»Warte!«, rief Hanna wieder.
Er blieb stehen und wartete auf sie.
»Das ist aber steil«, sagte Hanna und schaute hinunter.
»Das schaffst du mit Leichtigkeit. Versuch einfach, in den Knien weich und beweglich zu bleiben«, erwiderte ihr Vater und verschwand den Hügel hinab.
Hanna sammelte all ihren Mut. Doch, sie hatte das früher schon einmal geschafft. Wenn es ihr nur gelang, in der Spur zu bleiben.
»Eins, zwei und drei«, zählte sie und schwang sich auf die Bahn.
Der Fahrtwind ließ ihre Augen tränen.
»In die Knie, Hanna!«, rief Papa, aber es war schon zu spät.
Ein kleiner Baumstumpf mitten in der Spur – Hanna verlor das Gleichgewicht, und schon lag sie der Länge nach im Schnee. Als sie sich wieder aufrappelte, blieb ein Handschuh in der Schneewechte stecken.
»Ich habe meinen Handschuh verloren. Komm und hilf mir – ich kriege ihn nicht wieder raus!«
»Doch, das schaffst du auch allein«, rief ihr Vater ihr aufmunternd zu.
Hanna schaufelte wie wild mit der anderen Hand den Schnee beiseite, das Loch wurde immer tiefer und breiter. Und sie entdeckte den Handschuh. Aber da lag noch etwas anderes.
War das ein Schal? Sie zog leicht daran. Als sie das blau gefrorene Ohr sah, schrie sie laut auf.
19
Petra hatte einen sauberen, frisch gebügelten Läufer auf den Küchentisch gelegt und zwei Kaffeetassen daraufgestellt. Lasse saß auf der Küchenbank und sah ihr zu.
»Also, wann sollte sie mit dem Bus ankommen?«
»Um fünf nach halb sechs«, sagte Petra und schenkte Kaffee ein.
Hannes schlurfte in
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