Mädchen im Schnee
stellte Gunvor die Schale mit dem geschlagenen Ei auf die Spüle, wischte sich die Hände an der Schürze ab und nahm den Hörer des Wandtelefons ab.
»Berglund.«
»Hallo, hier ist Christer. Papa ist nicht zufällig da, oder?«
»Doch, der sitzt drüben und liest Zeitung. Einen Moment.«
Gunvor legte den Hörer aufs Fensterbrett und ging in den Flur.
»Bengt, Christer ist am Telefon. Nimmst du es da drüben an?«
»Okay.«
Gunvor kehrte in die Küche zurück und hängte den Hörer wieder ein.
Der hatte ja komisch geklungen. Die Stimme ganz heiser und so kurzangebunden. Ob er krank war?, überlegte sie und widmete sich wieder den beiden letzten Zimtkränzen, die sie mit Eigelb bepinselte. Obwohl sie inzwischen gar nicht mehr so viel Hefegebäck aßen, buk Gunvor immer noch aus alter Gewohnheit auf einen ganzen Liter Milch. Aber Schnecken machte sie nicht mehr, das war zu viel Arbeit. Geflochtene Kränze mussten reichen.
»Ich fahre mal kurz zu Christer rüber«, rief Bengt aus dem Flur.
»Dann kannst du gleich seine saubere Wäsche mitnehmen. Sie ist in der Tüte in der Waschküche.«
Bengt verschwand die Treppe hinunter, und Gunvor schob das letzte Blech in den Ofen, dann steckte sie einen von den fertigen Hefekränzen in eine Plastiktüte, die sie Bengt gab, als er zurückkam.
»Nimm das hier mit, und grüß ihn schön.«
Als Bengt den Autoschlüssel aus dem Schränkchen neben der Haustür nehmen wollte, fiel sein Blick auf einen Schlüssel, den er nicht kannte.
»Wohin gehört der denn hier?«, fragte er und hielt eine kleine Keramikfigur hoch.
»Zu Magda. Sie möchte, dass wir ihn verwahren.«
Bengt hängte den Schlüssel zurück und sagte:
»Ist sie verreist?«
»Nein, ich glaube nicht. Sie möchte einfach, dass wir einen Schlüssel haben, wenn mal etwas ist. Die Blumen werden wir wohl kaum gießen müssen, denn sie scheint keine zu haben. Und so wie ich das sehe, auch keine Gardinen. Ist das nicht ein wenig ungemütlich?«
»Wahrscheinlich ist sie einfach noch nicht dazu gekommen«, sagte Bengt, nahm die Plastiktüte mit der Wäsche und den Hefekranz und machte die Tür auf. »Du solltest dich nicht so viel darum kümmern, wie es bei anderen zu Hause aussieht. Hallo.«
Was soll das heißen, nicht darum kümmern, dachte Gunvor. Die Leute durften gern alles so machen wie sie wollten, aber man konnte nicht umhin zu bemerken, dass es bei Magda ziemlich unwohnlich aussah.
Lasse sah verwundert von der Zeitung auf, als Petra die Küche betrat.
»Du bist schon zurück?«
Petra sagte nichts. Ihre Gegenwart musste als Antwort genügen.
»Geht es dir nicht gut?«
Petra sank auf die Küchenbank.
»Ich habe es einfach nicht länger ausgehalten. Da lag ein Mädchen im Schnee, halb von irgendeinem Tier aufgefressen. Ich konnte nicht mehr. Aber zumindest war es nicht Nellie.«
Sie stützte den Kopf in die Hände und schloss die Augen.
»Hast du wirklich gedacht, sie wäre es?«
»Was soll man denn noch glauben?«
Petra fühlte sich plötzlich vollkommen kraftlos und leer. Es war schon anstrengend genug, nur da auf der Bank zu sitzen und nicht umzufallen.
Das Telefon klingelte.
Petra lehnte sich zurück und zog umständlich ihr Telefon aus der Jackentasche.
Nellie!
Als Petra die entspannte Stimme ihrer Tochter vernahm, verwandelte sich ihre Erleichterung in brennende Wut.
»Wo zum Teufel bist du das ganze Wochenende gewesen?«, schrie sie.
»Aber …«
»Ist dir nicht klar, was Papa und ich uns für Sorgen gemacht haben? Ist dir das nicht klar? Heute ist ein totes Mädchen im Wald gefunden worden, und ich habe gedacht, das wärst du. Ich bin hingefahren und habe gedacht, dass ich dich da im Schnee finden würde.«
»Aber Mama, das Ladegerät …«
»Jetzt hör aber auf! Es gibt ja wohl noch andere Telefone, von denen aus man anrufen kann! Das hätte ich nie von dir gedacht, Nellie. Niemals. Dass du einfach mehrere Tage nichts von dir hören lässt.«
Erst als sie Nellie schluchzen hörte, kam sie wieder zu Sinnen.
»Tut mir leid, Liebes. Ich habe solche Angst gehabt. Bist du jetzt im Bus?«
»Ja. Kann mich jemand abholen?«
»Papa holt dich. Und wir reden später noch mal drüber.«
Lasse, der jedes Wort gehört hatte, starrte Petra an.
»Verfluchtes Kind!«, sagte Petra und legte das Handy auf den Tisch. »Sie hat mich zu Tode erschreckt.«
Dann kamen die Tränen.
Christer zuckte zusammen, als es an der Tür klingelte. War sein Vater schon da? Dann musste er sich umgehend ins Auto
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