Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
Fotos knipsen lassen. Er war gut. Dafür, dass er noch ein Kind war, meine ich. Ein Naturtalent. Er konnte nicht genug von der Kamera bekommen.«
»Ich wette, du hast damit sein Leben verändert«, sagte Dani. »Sicher wird er auch einmal ein großer Fotojournalist, der die Welt verän–«
»Das wird er nicht. Er ist tot.« Mitch erstickte fast an seinen Worten. »Ich ließ während des Angriffs seine Hand los, und er rannte davon. Er wurde getroffen –«
»Mitch, das tut mir so leid.« Dani blickte in die Richtung, in die der Junge davongelaufen war, und legte Mitch eine Hand auf den Arm. Ihre Berührung war mitfühlend und tröstlich. »Wie hieß er?«
Mitch zuckte zusammen. »Das weiß ich nicht. Ich habe ihn nie gefragt.« Als er Dani ansah, erkannte er die Verständnislosigkeit in ihren Augen. Dani kannte keine namenlosen Fremden. Die Menschen, die sie berührte, hatten Namen.
Mitch schüttelte den Gedanken ab, doch etwas davon setzte sich in seinem Kopf fest. Darüber würde er später nachdenken müssen. »Komm jetzt«, sagte er. »Wir müssen diesen Chuck finden.«
34
S ie verließen die Gasse und liefen an der Überführung vorbei in Richtung Bahndepot. Dani spürte, wie sehr Mitchs Gefühle an ihm zerrten, doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu reden. Wenn es stimmte, was die Frau mit den Schlangentattoos sagte, würden sie vielleicht etwas aus dem Typen herausbekommen.
»Kann sein, dass sie total dicht war«, dachte Dani laut und versuchte, cool zu bleiben, »aber ein Mann mit einem Teddy … Den er erst seit kurzem hat.« Ihr Herz hämmerte.
Sie erreichten das Depot. Die verfallenen Gebäude warfen im Mondlicht unheimliche Schatten. Sie überquerten die Gleise und bewegten sich vorsichtig über den aufgerissenen Boden und den Müll etlicher Jahre. Chuck war vielleicht schreckhaft. Dani wollte nicht, dass er sich verkroch, also ließ sie die Taschenlampe aus.
»Psst.« Dani blieb abrupt stehen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Keine dreißig Meter vor ihnen schlich jemand um das am nächsten stehende Gebäude herum. Dani setzte sich wieder in Bewegung und hielt sich im Schatten. Die Gestalt verschwand gebückt im Eingang des dahinter liegenden Gebäudes. Als Dani sich näherte, schlug ihr der Gestank von Fäkalien und verfaultem Essen entgegen. Jemand nannte das hier sein Zuhause.
Chuck?
Dani schlich heran und sah durch einen Spalt zwischen den morschen Brettern den flackernden Schein einer Kerze oder Laterne. Sie griff zur Waffe, hielt aber noch inne. Auch Mitch schob seine Hand unter die Jacke.
»Hey, Polizei!«, rief Dani. »Kommen Sie raus. Ich will mit Ihnen reden.«
Keine Bewegung war mehr auszumachen. Die Person im Gebäude war augenscheinlich wie erstarrt.
»Ich will nur mit Ihnen reden, Mann. Sind Sie Chuck? Kommen Sie raus.«
Dani spürte ein Kribbeln im Nacken. Die Ursache war jedoch eher die unheimliche Gegend als der Bewohner des alten Gebäudes. Sie scannte mit einer Rundumdrehung ihre Umgebung ab, checkte jeden Gang, jeden Schatten und jedes Gebäude, das in Sichtweite war. Erst dann trat sie einen Schritt vor. »Kommen Sie schon, Mann. Ich will Ihnen keinen Ärger machen. April hat mich geschickt. Sie kennen April doch?«
Es vergingen ein paar Sekunden, bis sich die Tür einen kleinen Spalt öffnete. Das plötzliche Aufleuchten eines Feuerzeugs durchzuckte das Dunkel der Nacht. Die Tür wurde weiter geöffnet, und das Licht des Feuerzeugs erstarb.
Mitch bewegte sich, doch Dani hob eine Hand, um ihn zurückzuhalten. Sie schaltete ihre Taschenlampe ein und klemmte sie so in den Hosenbund, dass sie zu Boden leuchtete, damit sie wenigstens ein bisschen sehen konnte. Sie hielt ihre Dienstmarke vor sich. »Sie müssen mich ein bisschen unterstützen, Mann. Wie heißen Sie?«
Die Gestalt im Türrahmen bewegte sich und glitt schließlich hinaus in die Schatten. Es war ein Mann mit filzigen Zotteln, die früher einmal Dreadlocks gewesen sein mochten. Er sah erst Dani an, dann zuckte sein Blick blitzschnell zu Mitch. Angst.
»Er tut Ihnen nichts«, erklärte Dani, während sie auf Mitch deutete. Bleib dort stehen. Er hat Angst vor dir. »Wir wollen nur reden. April meinte, Sie können uns vielleicht helfen. Sind Sie Chuck?«
»Chicka-chacka-chucka.« Seine Stimme klang blechern. Im Dunklen war kaum mehr als seine Silhouette auszumachen. Er trug einen zerfetzten Mantel, und sein Körper zitterte unentwegt, was typisch für Drogenabhängige war.
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