Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
musste. Und nicht der Mann, den sie zu lieben behauptet hatte. Und dem sie mit ihrem Ellbogen die Nase gebrochen hatte.
Geh weg, hatte sie gejammert, ich habe dir doch gesagt, dass du niemals herkommen sollst … ich will dich hier nicht haben …
Jetzt entdeckte Mitch die gleiche Angst in ihren Augen – er hatte sie durch das Objektiv beobachtet und mehr gesehen, als sie hatte preisgeben wollen. Und er sah, dass sie ihm abermals misstraute und nicht glaubte, dass sein Wissen über sie gut bei ihm aufgehoben war.
Manche Dinge änderten sich nie.
Mitch drückte auf einen Knopf an seiner Kamera und holte die Speicherkarte heraus. Dann trat er zu Dani, das kleine Blättchen zwischen zwei Fingern haltend. Sie runzelte die Stirn, wich jedoch nicht zurück, als er die Speicherkarte in die Tasche ihres Blazers steckte.
»Ich muss jetzt los«, sagte er. »Aber sieh sie dir an, wenn du Zeit hast. Du wirst überrascht sein.«
Es wunderte ihn immer wieder, wie bereitwillig die Mädchen kamen. Man brauchte sie bloß mit ein paar Babysachen zu verhöhnen, mit ihrem schlechten Gewissen zu spielen. Mit ihrer Neugier oder Gier. Schon waren sie leichte Beute. Man konnte sie zu jedem beliebigen Ort locken: eine Gasse hinter einem Stripclub, ein Wäldchen hinter einem Sportplatz, ein Kiesweg, der von einer selten befahrenen Landstraße abführte.
Eine Ausnahme war – natürlich – Rosie gewesen, sie hatte von Anfang an Ärger gemacht. Dani Coles Werk.
Alicia hingegen war nicht so. Sie war weder klug noch von etwas getrieben. War nicht von der Straße geholt worden, damit sie sich mit ihrer Familie versöhnte. Sie hatte keine Polizistin an ihrer Seite, die Mutter Teresa spielte.
Und sie war so gut wie tot.
Fulton hatte recht gehabt: Das alte Bahndepot war abgelegen und düster und ein perfekter Ort, wenn man jemanden töten wollte. Eine heruntergekommene Anlage ein paar Meilen nördlich von Reading, wo tatsächlich schon einmal jemand erhängt worden sein sollte. Gruselig. Der ganze Vorfall wurde als mysteriös dargestellt – und war sogar im Fernsehen in jenen Sendungen erwähnt worden, die sich mit übernatürlichen Phänomenen und Spukhäusern beschäftigten. Doch bis auf ein paar Drogendealer, die jeden Monat herkamen, und hier und da ein Grüppchen betrunkener Teenager, die sich gegenseitig zu einer Mutprobe aufstachelten, war das Bahndepot ein einsamer Ort. Sogar die Cops machten einen weiten Bogen darum, wenn sie Streife fuhren.
Aber Alicia würde kommen, denn bis auf Rosie waren alle gekommen. Lämmer auf dem Weg zur Schlachtbank.
Schritte. Das Klackern von hohen Absätzen auf Beton. Nuttenabsätze.
Sie war hier.
Die Küchenschere erwachte zum Leben, die kalten Griffe wurden warm von der Berührung. Alicias Schuhe klapperten über den aufgerissenen Boden, wie das abgehackte Ticken einer Uhr kurz vor dem Stehenbleiben. Ihr helles, blondes Haar leuchtete in der Dunkelheit auf. In der Hand hielt sie einen Teddy.
Die Küchenschere schoss hervor. Leichte Beute.
8
M itch war um halb neun vom Fluss weggefahren und hatte sich auf die Suche nach Brad gemacht. Sicher würde er ihm etwas berichten können. Als Justiziar der Stiftung hatte er seine Finger eigentlich überall im Spiel. Und er empfand eine Art Hassliebe zu seinem Dad. Mitch war sich zu neunzig Prozent sicher, dass die Liebe stärker war als der Hass. Doch zehn Prozent Zweifel waren geblieben.
Das Taxi fuhr die Franklin Avenue hinunter und hielt vor dem Hauptgebäude der Stiftung. Ein steinernes Schloss – erbaut im Jahr 1854 –, das lange Zeit als Wohnsitz einer der bekanntesten Familien von Lancaster gedient hatte. Das war zu der Zeit, als Mitch hier aufwuchs. Es war Russ’ Idee gewesen, das Gebäude zu kaufen und es zum Ausstellungsort von Mitchs Arbeiten zu machen. Einige Jahre später hatte Mitch das große viktorianische Wohnhaus nebenan dazugekauft. Mitchs erste Wohltätigkeits-Ausstellung für die AIDS-Opfer eines fast vollständig zerstörten Dorfes in Tansania war erst der Anfang gewesen. Mittlerweile unterhielt die Stiftung eine internationale Adoptionsvermittlung, setzte sich für die Welthungerhilfe und den Wiederaufbau von Kriegsgebieten ein und betrieb politische Lobbyarbeit. Sie bot Stipendien und Workshops für Nachwuchsfotografen an, die gelegentlich in Vernissagen von jungen Künstlern mündeten. Das alles war Russ’ Werk gewesen.
Trauer drohte über Mitch zusammenzuschlagen. Er war fast siebenunddreißig Jahre alt, doch
Weitere Kostenlose Bücher