Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
er fühlte sich wieder wie der sechzehnjährige Junge, dessen Vater in seinen Armen gestorben war und der nicht wusste, wie er ohne ihn zurechtkommen sollte. Nicht wusste, wie er sich selbst verzeihen konnte, dass er den Tod seines Vaters nicht verhindert hatte.
Er bezahlte den Fahrer, stieg aus dem Taxi und ging mit schleppenden Schritten zu dem Wohnhaus neben dem Hauptgebäude. Noch bevor er dort ankam, öffnete sich die Tür, und Licht zeichnete aus dem Hausinneren den Umriss zweier Gestalten.
»Mitch, bist du das?«
Er überlegte eine Sekunde lang, dann konnte er die Stimme einordnen und wusste auch wieder, um wen es sich bei der zweiten, schmaleren Gestalt handelte.
»Marshall«, entgegnete Mitch und trat ihm auf der Treppe entgegen. Durch einen Bewegungsmelder ging auch dort das Licht an, und sie schüttelten einander die Hände. Marshall und Mia Kettering. Marshall war der Präsident des Stiftungsrats, ein bekannter Psychiater, den viele um seinen Wohlstand, seine Position und seine Ehefrau beneideten. Mia war fünfundzwanzig Jahre jünger als er. Sie arbeitete für mehrere karikative Einrichtungen ehrenamtlich und war selbst passionierte Hobbyfotografin. Eine umwerfende Schönheit.
»Hallo Mitch«, begrüßte sie ihn, »wie schrecklich, dass wir dich unter diesen Bedingungen wiedersehen.«
»Himmel, das stimmt«, fiel Marshall ein. »Aber ich bin froh, dass du nach Hause gekommen bist.«
»Hat Brad dich angerufen?«
»Ja, gleich nachdem ihn die Polizei von Russ’ Tod benachrichtigt hat«, antwortete Marshall. »Wir sind hergefahren, um nach ihm zu sehen, aber er ist nicht hier.«
»Bei der Polizei ist er auch nicht. Und er geht nicht ans Handy«, sagte Mia.
Mitch schüttelte den Kopf. »Ich habe auch nichts von ihm gehört.«
Marshall fuhr sich durch den Bart. Er war ein Mann von mittelgroßer Statur, mit einem kleinen Bauchansatz und einer Vorliebe für Tweedanzüge. Mitch stellte ihn sich gern pfeiferauchend in seinem Arbeitszimmer vor, wo er sich der Lektüre der Ilias hingab.
In diesem Augenblick wirkte er jedoch alles andere als entspannt.
»Morgen früh werden wir als Erstes eine Sitzung mit dem Stiftungsrat anberaumen«, sagte Marshall. »Es behagt mir gar nicht, ausgerechnet jetzt Geschäftliches ansprechen zu müssen, aber seit Wochen herrscht ein Riesenwirbel um die Ausstellung kommendes Wochenende, und die Vorbereitungen sind noch nicht abgeschlossen.« Er blickte Mitch an. »Russ hatte gehofft –«
»Ich weiß.« Mitch schloss die Augen und sah wieder, wie Russ’ toter Körper in dem Leichenwagen verschwand. Diese Ausstellung ist besonders wichtig … was auch geschehen mag, versprich mir, dass du die Ausstellung machst …
Verdammt, Russell.
Er blickte Marshall an. »Hat sich Russell in letzter Zeit ungewöhnlich verhalten? Ist dir irgendetwas aufgefallen?«
»Ich habe ihn ungefähr vor einer Woche zum letzten Mal gesehen, aber nein«, sagte Marshall. »Brad meinte, du hättest als Erster etwas davon erfahren.«
Mia drückte mitfühlend Mitchs Hand. »Er hat dich über alles geliebt, Mitch. Mehr als alles andere.«
»Dagegen kann ich wohl schlecht etwas einwenden.«
Beim Klang der Stimme drehten sich alle um. Brad stand am Fuß der steinernen Außentreppe.
Mitch trat auf ihn zu. Was auch immer für Streitigkeiten zwischen ihnen standen: Dieser Mann hatte gerade seinen Vater verloren. »Himmel, Brad, es tut mir so leid.«
Brad taumelte. Er trug einen leichten Anorak und hielt die Schultern ein wenig nach vorn gebeugt. Eine Hand war tief in der Jackentasche vergraben. Sein Haar, das er in einer klassischen Kurzhaarfrisur trug, stand ihm vom Kopf ab, als sei er unablässig mit den Fingern hindurchgefahren.
Er war offensichtlich betrunken.
»Du bist also zurück, Scheißsuperheld«, sagte Brad. Seine Beziehung zu Mitch beruhte nicht auf Hassliebe. Es war eigentlich nur Hass.
»Hey, ich will bloß mit dir reden«, entgegnete Mitch.
»Reden? Willst du mal wieder dein Herz bei mir ausschütten?« Er lachte und blickte zu Marshall und Mia hinüber. »Ist das nicht süß?«
»So kommen wir nicht weiter, Brad«, sagte Mia.
Brad geriet ins Taumeln und schlug mit den Armen um sich. »Und wie kämen wir weiter?«, rief er und wandte sich Marshall zu. »Hey, wo wir gerade davon reden, Marsh, du kommst doch an alles heran. Ist ja dein Beruf. Wie wäre es mit ein wenig Demerol? Komm schon, Doc, lass die Schmerzpillen rüberwachsen. Nur ein paar Oxys. Oder Perco–«
»Es
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