Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
Flussufer schweifen. Ein großer Mann stand auf einem Anleger, der ungefähr zehn Meter ins Wasser ragte. Er hielt die Arme angewinkelt, die Ellbogen seitlich ausgestreckt. Danis Herz machte einen Satz.
Es war Mitch. Mit einer Kamera. Die er direkt auf sie gerichtet hielt.
7
M itch kam unmittelbar nach der Polizei am Fluss an. Er lief auf das gelbe Absperrband zu und betete: nicht Russ , nicht Russ. Doch er konnte nichts erkennen. Daraufhin schritt er das abgesperrte Gelände in beide Richtungen ab, doch von keiner Stelle aus war viel zu sehen. Zu viele Bäume, zu viele Menschen, und schon bald würde es dunkel werden. Da vorn lag eine Leiche – so viel wusste er. Der Körper wirkte kompakter als der von Russ, aber wirklich sicher war er sich nicht …
Nicht Russ.
Die Idee kam ihm, als er die Augen zusammenkniff und versuchte, doch etwas mehr zu erkennen. Seine Kamera. Seine beste war in der Reisetasche. Er hatte sie Russ geben und es künftig ihm überlassen wollen, die gottverdammte Welt zu retten. Und diese Tasche lag noch dort, wo der Taxifahrer ihn abgesetzt hatte. Mitch joggte zu der Stelle zurück, zögerte erst und holte die Kamera dann hervor. Das Anbringen des Objektivs war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass die Bewegungen automatisch erfolgten. Eine gewisse Zeit nach dem Angriff auf das Lager war er sich ohne den Apparat nackt vorgekommen. Jetzt kam es ihm eher so vor, als hinge ihm eine Eisenkugel um den Hals.
Aber hier ging es nicht darum, Fotos für eine Reportage zu machen. Oder schlimme Zustände anzuprangern. Hier ging es nur darum, etwas sehen zu können.
Er lief ein Stück abseits des Fundorts den Fluss entlang – eine teure Wohngegend mit Grundstücken, die ans Wasser grenzten. Fast jeder Eigentümer verfügte über einen eigenen Anleger und ein kleines Boot. Mitch brauchte nicht lange. Bereits der dritte Besitzer erkannte ihn und ließ ihn auf seinen Anleger. Mitch hielt sich die Kamera vors Auge, und sofort rückte der Fundort in unmittelbare Nähe.
Zu viele Leute – alle schienen sich über die Leiche zu beugen, deren Kopf von Mitch abgewandt lag. Es konnte Russ sein, aufgrund der Kleidung ließ sich das nicht ausschließen. Zur Hölle, er hatte doch keine Ahnung, was Russ gerade trug, schließlich hatten sie sich neun, zehn Monate lang nicht gesehen.
Mitch zoomte ein wenig heraus, um mehr von der Umgebung erkennen zu können. Dani, Tifton und noch einige weitere Personen. Ein dünner Mann mit Brille und einem Hemd mit Brusttaschenschutz sagte etwas zu den beiden, dann kehrten Dani und Tifton abrupt zur Leiche zurück. Los, Leute, verschwindet aus meinem Blickfeld! Die beiden hockten sich hin, dann beugte sich ein dritter Mann zu ihnen hinab und bewegte die Leiche, aber er konnte nichts sehen.
Als Dani mit einem Mal hochfuhr und davoneilte, folgte Mitch ihr mit der Kamera. Sie rannte, verborgen vor den Blicken der anderen, in einen Hohlweg, wo sie sich vornüberbeugte und erbrach.
Mitch ließ die Kamera sinken und spürte einen Stich im Herzen, als er sich zwingen musste, nicht zu ihr zu eilen und sie zu trösten. Doch hatte er schon vor langer Zeit begriffen, dass es das Letzte war, was Dani wollte. Niemand – auch nicht Mitch – durfte ihre Verletzlichkeit sehen. Einen Augenblick lang fragte er sich, wo sie wohl heute stünden, wenn sie sich nicht ständig hätte schützen wollen. Wäre er dann wirklich in die Welt hinausgezogen, um etwas zu ändern? Hätte Dani offener und Mitch hartnäckiger sein können?
Vergiss es. Was auch immer sie so sehr beschäftigte, sie würde es ihm nicht sagen, das war so sicher wie das Amen in der Kirche. Abgesehen davon war er nicht hergekommen, um alte Gefühle wiederaufleben zu lassen. Er war nach Hause gekommen, um Russ zu helfen.
Seine vernünftigen Vorsätze schienen in sich zusammenzufallen, als sich Dani wieder aufrichtete und über ihre Hose strich. Mitch hielt sich die Kamera erneut vor Augen und sah zu, wie sie die Umgebung mit Blicken absuchte. Er blieb ruhig stehen, auch auf die Gefahr hin, dass sie sich in seine Richtung bewegte, und begriff, dass sie ihn entdeckte, und als es geschah, war es ihm trotzdem nicht möglich, sich zu verbergen. Wut zog über ihr Gesicht. Sie wirbelte herum und lief zurück zum Flussufer.
Mitch stieß einen Fluch aus, stellte das Objektiv ein und folgte ihr mit der Kamera. Es waren noch immer recht viele Personen am Fundort unterwegs, aber bei der Leiche stand jetzt niemand, und so
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