Mädchen Nr. 6: Thriller (German Edition)
die volle Ladung abbekamen.
»Okay, okay.« Sarah – die gutgläubige Sarah – hielt an.
Schnell raus aus dem Wagen und zum Brückengeländer. Das war ein bühnenreifer Auftritt in Sachen Übelkeit. Sarah stellte den Warnblinker an und kam hinterher. Sie sah besorgt aus.
»Ist alles in Ordnung?«
Hinter ihnen fuhr ein Auto vorbei. Bleib einfach über das Geländer gebeugt. Warte. Ein Blick in beide Richtungen. Niemand mehr zu sehen. »J-Ja. Mir geht es gut.«
In Sekundenschnelle fuhr der Lauf der Pistole auf Sarahs Gesicht zu. Sie riss die Augen auf, als sie begriff, was los war. Zu spät. Sie wich zurück, doch der Pistolengriff erwischte sie hart an der Schläfe, und ihr Schädelknochen knackte wie die Schale einer Kokosnuss. Die Wucht des Schlags beförderte sie halb über das Brückengeländer, ihre Beine gaben nach, und ihr Körper zuckte. Ihr Kopf hing schlaff zur Seite, als sie dem Killer in die Augen blickte und verzweifelt nach Luft schnappte. Nur ein kleiner Schubs, und sie stürzte über das Geländer. Ihr langer Rüschenrock flatterte ihr über den Kopf und gab den Blick auf züchtige, weiße Unterwäsche frei, ein Zeichen ihrer Tugend. Fünfzehn Meter weiter unten klatschte sie in den Monocacy River.
Sarah Rittenhouse war so zuverlässig wie der Sonnenaufgang. Leichte Beute.
27
E s war vollkommen still, und kein Gestank lag in der Luft, und genau davon wachte Nika Love auf. Sie hatte tief und fest geschlafen – fast schon, als sei sie bewusstlos –, bis heftige Krämpfe in ihrem Unterleib einsetzten und wie Dornen stachen. Als sie sich seitlich zusammenrollte, schrie ihr die Stille förmlich ins Ohr. Kein Schnarchen. Kein Husten oder Schniefen. Nichts von den ständigen Hintergrundgeräuschen, die im Obdachlosenheim Tag und Nacht zu hören waren. Dort, wo die Feldbetten in Reih und Glied nebeneinanderstanden. Und auf jedem lag mindestens ein Mensch. Kein Mief.
Sie öffnete die Augen, und das Tageslicht bohrte sich wie eine Lanze in ihren Schädel. Nika schloss die Augen wieder und blieb reglos liegen. Auf jeden Fall war sie nicht in dem Heim – so viel stand fest. Sie lag in einem Bett, in einem richtigen Bett in einem Schlafzimmer. Es war bequem, und im Raum war es still.
Langsam wagte sie es, die Augen wieder zu öffnen. Ihr Kopf schmerzte grauenvoll, doch diesmal war sie auf die Helligkeit vorbereitet und blinzelte den Schleier vor ihren Augen fort. Sie fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen. Auch die Schleimhäute in ihrer Nase waren vollkommen ausgetrocknet.
Plötzlich kam die Erinnerung wie eine Flutwelle zurück: der Mann, das Auto, der feuchte Lappen auf ihrem Mund, der nach Chemielabor stank. Sie hatte sich gewehrt – jetzt fiel ihr wieder ein, wie sie geschrien und versucht hatte zu fliehen. Aber für danach fehlte ihr eine lange Zeit die Erinnerung.
Dann war da wieder dieser Mann gewesen und kleine Babyschuhe. Und immer wieder der feuchte Lappen, der ihr brutal vor den Mund gepresst wurde. Er musste mit irgendeiner Chemikalie getränkt worden sein, die den Mund austrocknete und schreckliche Kopfschmerzen verursachte.
Und das Baby? Ängstlich berührte Nika ihren Bauch – die Wölbung war noch da. Natürlich war sie das. Was sollten das sonst für stechende Schmerzen gewesen sein? Schon erstaunlich, wie etwas, das sie vor wenigen Monaten noch so abgelehnt hatte, zu etwas herangewachsen war, das sie um jeden Preis beschützen wollte. Und das sie behalten wollte. Das konnte sie natürlich nicht ihrem Zuhälter sagen. Sie hatte ihm versprochen, nach der Geburt des Babys zurückzukehren. Aber Nika hatte sich anders entschieden. Erst gestern hatte sie Dr. Housley gesagt, dass sie das Kind behalten würde.
Sie stand auf, doch ihre Benommenheit zwang sie fast in die Knie. Schließlich schaffte sie es, zur Tür zu wanken. Als sie die Hand nach dem Türknauf ausstrecken wollte, stieg schlagartig Panik in ihr auf.
Es gab keinen Knauf.
Ihr schlug das Herz bis zum Hals, als sie die Türkanten mit den Fingern absuchte. Nichts. Sie schlug dagegen und kratzte mit den Fingernägeln an der Oberfläche auf der Suche nach etwas, an dem sie Halt finden würde. Nika begann zu rufen und durchquerte dabei den Raum zu einer anderen Tür. Doch diese führte nur in ein Badezimmer – es gab keinen Weg hinaus. Schreckliche Angst überkam sie. Sie spürte, wie die grausame Ungewissheit ihr den Magen umdrehte.
Wo, zum Teufel, war sie?
Nika zwang sich, ruhig zu atmen. Sie ging
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