Mädchen und der Leibarzt
schwarzen Knötchen gespannt war, Blattern, die keinen einzigen vertrauten Gesichtszug übrig gelassen hatten.
Lange tauchte sie die Federspitze ins Tintenfass, bevor sie unter Gregors Schriftzug fünf waagerechte, leicht gekrümmte Bögen malte, aus denen sich mit einigen weiteren Strichen eine Hand entwickelte, die am Schluss täuschend echt vor ihr lag. Nach kurzem Zögern zeichnete sie auf den Handrücken mehrere Knötchen mit kraterartigen Vertiefungen. Genauso hatte Ernestines Hand ausgesehen.
Helena atmete tief durch und malte Fragezeichen, eins neben dem anderen, bis das gesamte Pergament ausgefüllt war. Dabei ging sie in Gedanken ihr Notizbuch durch. Eine Person nach der anderen. Alle waren irgendwann an den Melkerknoten erkrankt gewesen, das stimmte. Sie betrachtete die Zeichnung und umkreiste mit der Federspitze unablässig eines der Knötchen. Nein, es konnte nicht sein. Schließlich hatte die Großmutter die Melkerknoten ebenfalls gehabt. Mit einem schnellen Strich durchkreuzte sie die Hand. Es gab einfach keine Antwort.
Aber es musste ein Mittel gegen die Blattern geben! Das alles hier konnte nicht Gottes Wille sein! Sie fuhr mit der Feder die Fragezeichen entlang, immer und immer wieder. Sie wurden breiter und irgendwann formten sich daraus lange schwarze Umhänge. Unförmige, verschwommene Gestalten
sahen ihr entgegen. Wenn sie wenigstens wüsste, wie viel Zeit ihr noch bliebe, bis Friedemar kam, um sie zu holen …
Helena starrte vollkommen versunken auf das Pergament mit den Zeichnungen, als die Tür zum Sternenzimmer aufging. Noch bevor sie sich umdrehen konnte, hörte sie Gregors Stimme. Mit klopfendem Herzen ließ sie das Pergament zwischen den Seiten eines Buches verschwinden.
Mit hängenden Schultern, den Blick zu Boden gewandt, kam er auf sie zu. Die Haare noch immer ungekämmt, doch ihr fiel auf, dass er sich Gesicht und Hände gewaschen hatte.
»Gregor! Wo warst du?«
»Ich hab mir etwas zu essen besorgt«, gab er tonlos von sich.
»Um Gottes willen! Hat man dich erwischt?«
»Nein, hat man nicht.« Er lehnte sich gegen ein Bücherregal, als ob ihn seine Füße nicht mehr tragen wollten. »Stünde ich sonst vor dir? Was machst du überhaupt hier? Musst du nicht bei unserem Äskulap buckeln?«
»Ich hatte in der Kapitelversammlung eine kleine Auseinandersetzung mit ihm«, deutete sie an.
»Mhm«, machte Gregor und nahm dies ohne weitere Nachfrage zur Kenntnis.
»Gregor, was ist los? Irgendetwas muss passiert sein, das sehe ich dir an!«
»Wahrscheinlich liegt mir das Essen zu schwer im Magen. «
Sie sah ihn forschend an. »Warst du bei Aurelia?«
Angelegentlich musterte er die Buchrücken. »Ich sagte doch, ich habe Essen besorgt. Es war Rekreationszeit, und niemand war unterwegs.«
Helena schaute in die Ferne, denn sie spürte, dass jetzt keine Zeit für Fragen war. Fragen, die ihr erklären würden, warum er auf einmal nichts mehr von Aurelia wissen wollte. Eines war jedoch sicher: Er musste bei ihr gewesen sein. Also blieb nur noch Beten übrig. Beten, dass Gregor keine Blattern bekam, ansonsten würde das Stift zwei Opfer verzeichnen müssen. Und das wäre erst der Anfang.
»Gregor, setz dich bitte.«
»Soll das jetzt ein Verhör werden?«
»Nein. Ich möchte dir nur etwas sagen, was du unbedingt wissen solltest.«
Er ließ sich mit genervtem Blick auf das Bett fallen und streckte die Beine lang. »Und?«
Helena holte tief Luft. »Ich habe dich gebeten, das Sternenzimmer nicht zu verlassen, weil du an einer ansteckenden Krankheit leiden könntest.«
Gregor verzog das Gesicht. »Meine Güte, du machst einen Aufstand wie ein General bei Fahnenflucht.« Er verschränkte die Arme unter dem Kopf und machte es sich bequem. »Ich habe mir nirgendwo die Syphilis geholt, auch wenn andere die Krankheit hatten.«
»Gregor, ich habe den furchtbaren Verdacht, dass der vermeintliche Syphilisausschlag bei den Franzosen beginnende Blattern waren. Und du könntest dir das Gift eingefangen haben!« Nun war es heraus.
Er lächelte sie an. »War das alles?«
Helena nickte verdutzt.
»Und was ist daran so furchtbar? Ein früher Tod ist besser als ein Leben voller Qual. Wie lange habe ich noch zu leben?«
»Das … das ist unterschiedlich. Bis zum Ausbruch der
Krankheit können zwei Wochen vergehen. Und bei schweren Blattern vergeht alsdann kein Tag bis zum Tod.«
»Wie groß ist die Möglichkeit, dass ich überlebe, sollte mich dieses gnädige Schicksal treffen?«
»Nun ja, es
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