Mädchen und der Leibarzt
bringt den Tod schneller, als irgendein Feldaberglaube quellen könnte!«
»Nein, sie wird nicht sterben«, flüsterte Leas Mutter und hievte zwei der Zudecken zurück aufs Ehebett. »Ich wollte doch nichts falsch machen …«
»Es wäre vielleicht gut, das Fenster zu öffnen, es ist dringend frische Luft vonnöten.«
»Nein! Nicht! Sonst kommt der Tod herein und reißt mein Kind an sich! Außerdem trägt der Wind das Blatterngift mit sich fort, und dann müssen noch mehr Kinder …«
»Haben Sie doch bitte keine Angst. Es ist nicht der Wind, der die Blattern verbreitet. Es sind die Stubenfliegen, die sich am Eiter nähren und ihn davontragen.« Helena trat näher. »Sind die Pusteln denn schon mit gelbem Gift gefüllt? «
Verwirrt schüttelte die Mutter den Kopf.
»Ist die Haut schwarz geworden?«
Wieder schüttelte sie den Kopf und streichelte über die graue Leinendecke, unter der sich Leas Umrisse abzeichneten.
Keine Schwarzen Blattern, Gott sei Dank. Dann bestand vielleicht noch Hoffnung. »Darf ich mir den Ausschlag vielleicht kurz besehen?«
Die Mutter wischte sich über die Augen und zog die Zudecke vorsichtig zurück. Wie ein Säugling kauerte das kleine Mädchen auf der Strohmatratze. Ihr bloßer Körper war mit roten Knötchen übersät, die besonders im Gesicht und am Oberkörper dicht an dicht standen. Auf den Knötchen saßen kleine Blasen, wie Hagelkörnchen, die mit einer perlmuttartig glänzenden Flüssigkeit gefüllt waren.
»Wird es noch schlimmer werden?«
Helena nickte kaum merklich. Es war erst der Anfang. Die Bläschen würden sich in gelbes Gift verwandeln, aufplatzen
und schließlich schwarz werden, begleitet von Schmerzen und beinahe unerträglichem Juckreiz.
»Meine Kleine, sie wird doch nicht sterben müssen, oder?«
Helena schaute zur Seite. »Wenn Mund und Rachen nicht befallen werden und das hitzige Geblüt nicht zu sehr in Wallung gerät, dann besteht vielleicht Hoffnung.«
Ein winziges Lächeln erschien auf dem Gesicht der Mutter, doch im selben Augenblick füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen. Sanft fuhr sie über die gerötete, mit Pusteln übersäte Wange ihres Kindes und strich die verschwitzten Strähnen aus der Stirn.
Helena schluckte. »Es wäre besser, wenn Sie das Kind nicht berühren würden, sonst werden Sie ebenfalls von den Blattern heimgesucht.«
Für einen Moment sah die Mutter aus, als habe man sie wachgerüttelt. Sie sah Helena mit klaren Augen an, bevor sie sich wieder ihrem Kind zuwandte und die mit Knoten bedeckten Ärmchen streichelte.
Unter der Berührung begann Lea auf einmal unruhig zu werden. Sie strampelte, ihre Beine stießen gegen den Bettkasten, sie drehte sich wimmernd auf den Rücken, warf den Kopf hin und her und schlug dabei um sich. Plötzlich riss Lea die Augen auf. Ihr glasiger Blick erfasste Helenas Gestalt und ein durchdringender, nicht enden wollender Schrei erfüllte den Raum.
»Mamaaa! Da, der Geist! Er soll weg! Er will meinen Hals zudrücken!« Ihr Atem wurde flacher, der kleine Körper bäumte sich unter der Anstrengung. »Nimm ihn weg, er sitzt auf meiner Brust!«
»Lea, um Gottes willen!« Die Mutter hob das zitternde
Bündel aus dem Bett und drückte es an sich. »Lea, das ist doch nur Helena, die da neben dem Bett steht!«
Wimmernd krümmte sich das Kind auf ihrem Schoß. »Mama, nimm ihn weg!«
Die Mutter war selbst am Ende ihrer Kräfte und versuchte, die Ärmchen festzuhalten, die gegen das Nichts kämpften, ruderten und schlugen. Sie beugte sich über ihr weinendes Kind und legte behutsam ihre Hand auf den kleinen, pustelbedeckten Brustkorb, der sich hob und senkte wie die bebenden Flanken eines gejagten Tieres.
Lea wand sich. »Mama, das Feuer! Mach es aus! Sie wollen mich verbrennen!«
»Was soll ich denn tun? Bitte, irgendjemand muss meinem Kind doch helfen! Mein Gott«, flüsterte sie, »warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber Hilfe ist fern. Des Tags und in der Nacht rufe ich, doch du antwortest nicht. Warum muss ich zurückgeben, was ich nicht gestohlen habe?«
Zitternd zog sie aus der Schublade des Nachtkästchens ein Fraisenkettchen hervor. Voll Hoffnung knotete sie das rote Stoffband mit Franziskuspfennig, Marienmedaille, Schutzbrief und einem Lochstein zur Hexenabwehr um den Hals ihrer Tochter. »Kämpfe«, flüsterte sie. »Du musst kämpfen, mein Mädchen.«
»Mama, es ist so heiß. Ich will raus aus dem Bottich! Das Wasser kocht!«
Helena löste sich aus ihrer Erstarrung.
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