Mädchen und der Leibarzt
Blattern!«
Der Leibarzt setzte sich seelenruhig an seinen Schreibtisch und nahm die weiße Feder zur Hand. »Auf Wiedersehen, Helena.«
»Aber … Sie können doch nicht tatenlos zusehen, wie ein Kind stirbt!«
»Ich wünsche dir eine angenehme Nachtruhe – und bessere Träume als bei Tage.«
»Das Mädchen hat keine Einblutungen unter der Haut, es sind keine Schwarzen Blattern! Es besteht also noch Hoffnung!«
»Allerdings. Die kleine Göre des Stallmeisters soll doch froh sein, die Blattern bekommen zu haben. Sodann wird der Körper endlich von dem unreinen Blute gereinigt, das
während der Schwangerschaft im Weibe gestockt hat und auf die Frucht übergegangen ist.«
»Das ist doch …«
»Gegen die Blattern lässt sich nichts ausrichten. Punkt. Sie sind dem Menschen angeboren und so unvermeidlich wie die Erbsünde, die wir als Prüfung mit der Gottergebenheit eines Hiob hinnehmen müssen.«
»Das glaube ich einfach nicht!«
Der Leibarzt ließ die Feder sinken. »So?«, fragte er.
»Ja. Es gibt vielleicht einen Schutz vor der Seuche. Ich habe in unserem Dorf Angaben über Menschen gesammelt, die nicht an den Blattern erkranken können und von vielen weiß ich, dass sie die Melkerknoten hatten. Ich … ich weiß nur nicht, warum meine Großmutter trotzdem sterben musste, aber das werde ich noch herausfinden!«
»Aha.« Der Leibarzt lehnte sich zurück. »Zu diesem Zwecke würde ich dir alsdann empfehlen, dich nach Hause zu begeben, denn dort gehörst du hin. Sodann wüsstest du auch, dass es in Wernigerode zu weiteren bedauerlichen Blatternfällen gekommen ist.«
Helena stockte der Atem, während der Leibarzt ein Pergament unter einem Stapel hervorholte. »Wenn ich dir aus dem Brief meines geschätzten Amtsbruders Medicus Roth zitieren darf …« Mit hochgezogenen Augenbrauen begann er vorzulesen: »Gegen die Seuche sind wir auch hier machtlos. Gestern haben wir die Familie vom Bussenhof beerdigt und noch ein paar Bauern mehr. Wir harren der Dinge und warten ab, bis der Herrgott seine Opfer gezählt hat und zufrieden von uns lässt.«
Helena durchfuhr es siedend heiß. Der Leibarzt unterhielt Briefkontakt mit Friedemars Ziehvater! Wie groß war
die Wahrscheinlichkeit, dass ihm der Äskulap von seiner Schmach, ein Weibsbild unterrichten zu müssen, berichtet hatte? Die Gefahr war gegeben, aber wohl erst mit der nächsten Post nach Wernigerode, es sei denn, er hatte einen Eilboten geschickt … Und die Bauernfamilie vom Bussenhof – auch ihre Namen hatten in ihrem Notizbuch gestanden, es waren Menschen, denen die Blattern bisher nichts anhaben konnten.
Der Leibarzt ließ das Pergament sinken. »Ich hoffe, das mindert deine Überzeugung.«
»Das … das wird sich herausstellen. Ich werde jetzt gehen«, Helena hielt inne, »aber nicht ohne ein paar Gran Kampferöl für Lea mitzunehmen.«
KAPITEL 9
A lles war vorbereitet. Die Porzellanschüssel stand mit Wasser gefüllt hinter dem Paravent, die frischen Tücher lagen fein säuberlich zusammengefaltet daneben, und der Toilettenstuhl stand nicht weit entfernt. Auch der Brief war fertig. Lange hatte Aurelia an der Formulierung gefeilt, während sie auf die Wirkung der Petersiliensamen wartete. Wieder und wieder hatte sie die Zeilen durchgelesen, die Sätze gedreht und gewendet und dabei auf die Worte gehorcht, wie diese wohl in den Ohren des Vaters klingen mochten.
Aurelia nahm die Lichtputzschere und kürzte den Kerzendocht, bevor sie den Brief noch ein letztes Mal durchlas. Um sie herum war es dunkel, nur diese eine Kerze brannte im Messingständer und beleuchtete die grünlichen Samtvorhänge hinter dem Schreibtisch. Als sie in der Fensterscheibe ihr schmales Gesicht gespiegelt sah, wandte sie rasch den Blick davon ab und rückte die Kerze näher an das Pergament:
Hochzuverehrender Herr Vater, ich schätze es mit großem Dank, dass sich Ihr höchst erwünschter Geburtstag abermals eingefunden hat und gratuliere in kindlicher Schuldigkeit zu dieser glücklichen Erscheinung.
Im Angesicht zahlreicher Glückwünsche möchte ich Sie dennoch bitten, gnädigster Herr Vater, meinem Schreiben Ihre geschätzte Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen.
Gedankenversunken nickte Aurelia. Die Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag, die glanzvollen Sonnenstrahlen zahlreicher Aufmerksamkeiten, sollten ihn den Wünschen seiner Tochter gewogen stimmen.
Wie Sie aus Ihrer großartigen politischen Beobachtungsgabe heraus wissen, drängen die Landesfürsten nach den
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