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Mädchen und der Leibarzt

Mädchen und der Leibarzt

Titel: Mädchen und der Leibarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Beerwald
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entlangging. Plötzlich sah sie es. Petroselinum crispum. Ihr Herz raste, als sie die Hand nach dem Behältnis ausstreckte und den Korkpfropfen mit einem dumpfen Geräusch aus dem Flaschenhals löste. Hatte sie da eben Schritte gehört? Panisch schaute sie sich nach einem Versteck um, doch es blieb ruhig. Es musste wohl das Knistern des Feuers gewesen sein.

    Aurelia drehte den Flaschenbauch unschlüssig hin und her, und die Körner perlten gegen das Glas. Sie formte ihre Hand zu einer Schale und ließ einige der schwarzen Samenkörner hineinrieseln. Bei unordentlichem Gebrauch … Fröstelnd starrte sie für einen Moment in das Kaminfeuer. Ihre Hand ballte sich zur Faust, ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft in die Innenfläche. Sie ging zum Schreibtisch und nahm den Weinkrug vom Tisch. Das Tintenfass stand offen, und die Schreibfeder lag quer über einem Pergament, auf dem die Überschrift lesbar war: Studien über die wirkliche Existenz von sogenannten Zugvögeln.
    Tränen standen ihr in den Augen, als sie bis drei zählte und dabei die Hand öffnete. Langsam ließ sie die Körner auf ihre Zunge rieseln. Einen kurzen Augenblick dachte sie an das Kind in ihrem Leib, dann trank sie von dem Wein. Sie zwang sich zu schlucken. Anschließend stellte sie den Krug behutsam zurück auf seinen Platz.

    Als Helena den Damenbau betrat, hörte sie Schritte im Treppenaufgang. »Monsieur Dottore Tobler?«, rief sie außer Atem. Das Geräusch verstummte.
    Helena zögerte einen Augenblick, überlegte, dass die Schritte zu leichtfüßig geklungen hatten, als dass es der Leibarzt gewesen sein könnte, und es wohl eher eine der Gräfinnen auf dem Weg zurück in ihre Räume war.
    Sie eilte die Stufen in den Keller hinab, stolperte, rappelte sich auf und durchlief den Gewölbegang, so schnell sie nur konnte. Das Licht der Öllampen huschte an ihr vorbei, und der feuchte Steinboden schmatzte unter ihren Schritten.
Sie folgte der Biegung und fand zu ihrer Überraschung die Höhlentüre offen. Abrupt hielt sie inne.
    »Monsieur Dottore Tobler?« Verzweiflung klang in ihrer Stimme. »Sind Sie da?« Als Antwort kam nur das Prasseln des Kaminfeuers, und sie schlich sich an der Ritterrüstung vorbei in die Höhle.
    Der Lehnstuhl war verlassen und auch auf dem rotsamtenen Patientenstuhl am anderen Ende des Raumes entdeckte sie niemanden. Nur das schmale Lächeln des Leibarztes auf dem Ölbild verfolgte sie, als sie zielstrebig zum Medizinregal hinüberging. Dabei flüsterte sie unentwegt die Worte: » Cortex … Chinae … Cortex …«
    Neben der gläsernen Karaffe mit den Blutegeln wurde sie fündig. Sie nahm die Flasche mit der Aufschrift Cortex Chinae ruber aus dem Regal und gab ein wenig von der fein zerkleinerten roten Chinarinde in ihre Hand. Das müsste für die mehrmalige Zubereitung eines frischen Suds reichen, den die Mutter ihrem Kind einflößen könnte. Zusammen mit einem Gran Kampferöl sollte dieser seine Wirkung nicht verfehlen.
    Campher, Campher … Nach längerem Suchen fand Helena die Medizin im untersten Regal. Mit der freien Hand wischte sie ein paar Spinnenweben von der Flasche und blies den Ruß von der Aufschrift, bevor sie das Gefäß unter den Arm klemmte und den Korkstöpsel löste. Sofort schlug ihr frischer, minzartiger Geruch entgegen, herb und ein wenig zitronig. Wenige Tropfen davon würden genügen, damit Lea hoffentlich …
    »Ich glaube, mir träumt! Fort von meinem Medizinregal!« Der Leibarzt stürzte mit finsterer Miene auf sie zu. Eine dicke Zornesfalte prangte auf seiner Stirn.

    »Verzeihung!« Helena hielt die Flasche fest umklammert. »Verzeihung, aber es ist ein Notfall.«
    Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, und er rammte seinen schwarzen Spazierstock direkt vor ihr auf den Boden. »Von deinen Notfällen habe ich so langsam genug!« Er entriss ihr das Kampferöl und stellte es zurück ins Regal. »Haben wir uns verstanden?« Der Leibarzt wartete nicht auf Antwort, sondern kehrte ihr den Rücken zu.
    Helenas linke Faust krampfte sich noch immer um die Chinarinde. Sie schaute ihm hinterher, ihr Herz raste vor Aufregung, doch als sie zu sprechen ansetzte, klangen ihre Worte vollkommen ruhig. Fast zu ruhig. »Nein, wir haben uns nicht verstanden.«
    Der Leibarzt wandte ungläubig den Kopf. »Wie bitte?«
    Helena hielt seinem Blick stand. »Die kleine Tochter des Stallmeisters ist sterbenskrank! Doch wenn es uns gelingt, das stark hitzige Geblüt zu vertreiben, hätte sie genug Kraft gegen die

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