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Mädchen und der Leibarzt

Mädchen und der Leibarzt

Titel: Mädchen und der Leibarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Beerwald
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geistlichen Gebieten. Das kaiserlich-freiweltliche Damenstift zu Quedlinburg, in dem sich Ihre Tochter gehorsamst befindet, ist allenthalben in Auflösung begriffen.
    Vor einigen Monaten erhielten Sie bereits einen Brief, in dem Ihre jungfräuliche Tochter unterthänigst um die Möglichkeit einer Heirat gebeten hatte. Falls Sie diesen Brief sogleich in Ihrer bemerkenswerten Entscheidungskraft dem Feuer zugeführt haben sollten, bitte ich nochmals in höchstem Eifer um Ihr Gehör.
    Bei dem Antragsteller handelt es sich um Gregor von Herberstein, ein wahrhaft standesgemäßer und gutsituierter Herr aus einer Grafenfamilie von ehrbarer Herkunft. Durch eine für Sie sehr glückliche Fügung ist diesem Mann jedoch nur eine schwache Gesundheit zuteilgeworden, und er musste darüber dem Dienst in der Armee entsagen. Aus diesen Umständen heraus bräuchten Sie, sehr verehrter Herr Vater, im Falle dieses kränklichen Vaterlandsdieners, für mich nur eine geringe Mitgift aufzuwenden. Um Ihnen bei der zu befürchtenden Auflösung des Stifts nicht abermals zur Last zu fallen, bittet Ihre letztgeborene Tochter daher gnädigst um Zustimmung zu dieser Verbindung. Ferner wäre dazu noch ein Abschiedsgesuch bei der österreichischen Armee einzureichen, selbigem durch Ihr hochgeschätztes und hervorragendes diplomatisches Geschick jedoch sicherlich stattgegeben werden wird. In der Hoffnung
auf Ihre gnädigste Erlaubnis verharre ich mit hochachtungsvollen Grüßen,
    Ihre ergebenste Tochter Aurelia.
    Post Scriptum: Haben Sie bitte die Freundlichkeit und richten Sie den Entlassungsschein sowie diesbezügliche Korrespondenz sämtlich an meine Adresse.
    Damit müsste sie beim Vater durchkommen.
    Plötzlich gurgelte es in ihrem Bauch. Erschrocken hielt sie inne. Der übermäßige Genuss führt zur qualvollen Vergiftung, ging es ihr wieder durch den Kopf. Einen Moment lang dachte sie darüber nach, einen Abschiedsbrief zu verfassen – doch an wen hätte sie ihn richten sollen?
    Sie stand auf und näherte sich mit wackeligen Beinen dem Toilettenstuhl. Gestorben den 16. September 1802 an einem fauligen Fieber – so wird es mit schneller Hand im Kirchenbuch vermerkt werden.

    Die Umrisse der Buchrücken tauchten zögerlich aus der Dunkelheit auf, und die Farben wurden nur allmählich deutlicher, es war, als sähe Helena einem Maler bei der Entstehung eines Gemäldes zu. Die Sternbilder an der Zimmerdecke verschmolzen nach und nach mit dem Sonnenlicht, die Marmorbüsten schienen zu neuem Leben zu erwachen, und endlich verschwand das schwarze Loch, in das sie die ganze Nacht gestarrt hatte, endlich konnten ihre Augen wieder etwas fassen, doch ihre Gedanken kreisten nach wie vor um die Blattern.

    Gestern Abend hatte sie der Mutter von Lea noch auf der Türschwelle die Zubereitung der Chinarinde und die Verwendung des Kampferöls erklärt. Sie hatte es nicht fertiggebracht, noch einmal nach Lea zu sehen, denn im Innersten ahnte sie, dass der Kampf aussichtslos sein würde. Für Lea und für alle anderen, die noch folgen mussten.
    Wie es wohl um die übrigen Blatternkranken in Wernigerode stand? Helena wollte es sich nicht ausmalen. Vor allem – warum hatte die Blatternseuche vor sechs Jahren einen Bogen um diese Bauern gemacht, die nunmehr doch sterben mussten? Warum konnte sie damals Blatternkranke pflegen, ohne selbst zu erkranken? Warum nur?
    Gregor zog sich neben ihr mit einem tiefen Brummen die Federdecke bis unters Kinn. Auch er hatte unruhig geschlafen. Schon beim ersten Lichtstrahl hatte sie unwillkürlich nach roten Flecken auf seiner Haut gesucht und, Gott sei es gedankt, keine entdeckt.
    Das Stroh knisterte, als sie sich leise erhob. Fröstelnd ging sie zu der blauen Waschschüssel, die auf einem Schemel stand, und wusch sich das Gesicht. Das kühle Wasser perlte ihr über Wangen, Hals und an den Armen entlang. Helena atmete tief durch, trocknete sich mit ihrer Schürze ab und strich den zerknitterten, grasgrünen Rock glatt, bevor sie sich an den Studiertisch setzte.
    Ihr Blick fiel auf den steinernen Engel, der noch immer in seinem Buch las. Wenn es doch nur irgendwo jemanden gäbe, der ihr Antwort auf diese Fragen geben könnte. Helena betrachtete die Figuren auf dem Schachbrett, die zu einer neuen Partie aufgestellt waren. Offenbar hatte Gregor sein inneres Gefecht zu Ende gebracht. Sie sah eine Weile zu
ihm hinüber, lauschte auf seine unruhigen Atemzüge und dachte dabei nach.
    »Ganz langsam und noch einmal von vorn«,

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