Mädchen und der Leibarzt
flüsterte sie vor sich hin und führte sich abermals ihre Aufzeichnungen im Notizbuch vor Augen. »Wer aus den Familien starb bei der Seuche vor sechs Jahren?« Zögerlich griff sie nach dem schwarzen König und der Dame und legte die beiden Figuren an den Rand des Schachbretts. Stellvertretend für die Toten aus den drei anderen Familien holte sie sich jeweils die beiden Läufer, die Springer und die Türme dazu. Vier Gruppen, vier Familien. Mit den Fingerspitzen berührte sie noch einmal die kalten Marmorfiguren von König und Dame und streichelte zart darüber. Ihre Gedanken wanderten von den Eltern weiter zum Sterbebett der Großmutter. Helena hielt einen Augenblick inne, bevor sie die weiße Dame vom Schachbrett hob und sachte dazulegte; nun war ihre Familie komplett. Sie griff nach den beiden weißen Türmen für das Ehepaar Rebmann, den weißen Läufern für die Hoflers und die Springer für den Bussenhof und stellte sie zu den jeweiligen schwarzen Figuren.
Übrig blieben die kleinen Bauernfiguren, allesamt aus der jüngeren Generation, die meisten in ihrem Alter. Auch der weiße König stand noch da, siegessicher und erhaben neben den anderen. Friedemar. Er gehörte zu keiner der anderen Familien. Helena schaute aus dem Fenster. Wenn sie nur wüsste, wie lange es noch dauerte, bis er kam, um sie zu holen.
Eine Weile lang beobachtete sie die dahinziehenden Wolken, bis sie wieder etwas ruhiger wurde. Wie kam es, dass nur die jüngere Generation bisher von den Blattern verschont geblieben war? Wie war das möglich? Die Seuche
suchte sich ihre Opfer doch nicht nach Generationen aus?
Helena wandte sich erneut dem Schachbrett zu und starrte die weißen und schwarzen Figuren an. Was war jetzt anders als früher? Plötzlich durchfuhr sie ein Gedanke. Schwarz-weiß! Früher hatte man schwarz-weiße Kühe im Dorf, seit einiger Zeit aber versuchte man es mit einer grauen Rasse aus dem Allgäu, da diese Kühe offenbar mehr Milch gaben.
War das des Rätsels Lösung? Schützten nur die Melkerknoten von grauen Kühen zuverlässig vor den Blattern? Es gab keinen Beweis. Sie hielt inne. Man müsste es an jemandem ausprobieren, der noch nie die Blattern gehabt oder eine Inokulation erfolgreich hinter sich gebracht hatte.
»Die Morgenmesse entfällt! Es wird zur außerordentlichen Kapitelversammlung geläutet! Alle sind gehalten, sich unverzüglich zur Fürstäbtissin in den Kapitelsaal zu begeben! «, ertönte Borgininos Rufen draußen auf dem Gang.
Als Helena wenig später den morgendlich erleuchteten Kapitelsaal betrat, herrschte aufgeregtes Gemurmel. Die meisten hatten ihre Plätze an dem vergoldeten Marmortisch bereits eingenommen und mit einem Seitenblick auf die Fürstäbtissin ließ man den Spekulationen über den Grund der außerordentlich anberaumten Versammlung einstweilen flüsternd freien Lauf.
Helena spürte den kalten Marmorboden unter den dünn besohlten Füßen, als sie um den Kapiteltisch herumging und sich dem Stiftskanzler gegenüber auf den gleichen
Stuhl setzte, an dem sie bereits das letzte Mal Platz genommen hatte.
»Nun sind alle eingetroffen, werte Fürstäbtissin.« Die Seniorin am anderen Tischende rückte ihre schwarze Spitzenhaube zurecht und bat mit dem Fächer klopfend um Aufmerksamkeit. »Sie können beginnen, werte Fürstäbtissin. Was ist der Grund für diese außerordentliche Zusammenkunft? « Gräfin Maria machte ein zweifelndes Gesicht, als könnte nichts wichtig genug sein, ihre Vormittagsruhe zu stören.
»Einen Augenblick, bitte.« Die Fürstäbtissin griff nach ihrer Lorgnette und schaute in die Runde. Sie trug das dunkelblaue Samtkleid mit den Schleifen und weißen Seidenabschlüssen, und ihre dunklen Haare waren mit Perlennadeln zu einem Knoten gesteckt. Wie Helena erkannte, war die Mase auf der Stirn dunkler geworden und schien tatsächlich ordentlich zu heilen. »Monsieur Dottore Tobler und die Gräfin von Hohenstein fehlen noch«, konstatierte sie.
Die Seniorin hob missbilligend die Augenbrauen. »Ich sagte, wir sind vollzählig. Der Äskulap wird bei einem Patienten sein, und ich wüsste wirklich nicht, warum wir auf die Gräfin von Hohenstein warten sollten. Also bitte, werte Fürstäbtissin, wenn Sie die Liebenswürdigkeit besäßen …«
»Gewiss. Nur bedauerlich, dass nicht alle an dieser äußerst erfreulichen Botschaft teilhaben können. Ich möchte Ihnen gerne einen Brief vorlesen. Absender ist mein lieber Vetter Friedrich Wilhelm.«
Die Miene der Seniorin
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