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Mädchen und der Leibarzt

Mädchen und der Leibarzt

Titel: Mädchen und der Leibarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Beerwald
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Fuße des Berges sah er schemenhaft die Häuser, in denen hier und da ein Licht brannte. Er trat unter dem kleinen Steinbogen des Stiftstores hindurch, sah sich nach beiden Seiten um und rannte die in den Fels gehauenen Treppen im Zickzack hinunter. Nur noch wenige Stufen … Atemlos langte er in der Mühlenstraße an. Das Rauschen des Flusses begleitete ihn bis vor zum Viehtor. Er lehnte sich gegen den Sandsteinpfeiler und schickte ein Stoßgebet hinauf zu der kleinen Statue des heiligen Servatius im Gefache des Torbogens, auf dass der Stiftsheilige ihn sicher bis zur Viehweide geleiten möge.
    Gregor lief weiter, geduckt, wie er es beim Wechsel von Schützengraben zu Schützengraben gelernt hatte. Er ließ den Bauernhof zu seiner Linken hinter sich und drehte sich erst wieder auf Höhe der Wassermühle um. Düster ragten die Umrisse des Stifts in den nächtlichen Himmel. Was, wenn er jetzt fliehen würde? Er war doch frei! Einfach nur weitergehen. An der Bode entlang, durch die Wälder, immer Richtung Süden. Irgendwann würde er schon in Wien
ankommen – oder dem Tod in die Arme laufen, dachte er, als er am Wiperti-Friedhof vorbeikam, wo auch die Stiftsangehörigen ihre letzte Ruhe fanden. In Gedanken sah er ein frisches Grab vor sich, auf dem Aurelias Name stand. Diese Vorstellung trieb ihm Tränen in die Augen. Hätte er ihren Versuch, sich das Leben zu nehmen, vereiteln können ? Hätte er doch für sie da sein sollen? Was, wenn sie in diesem Moment starb? Seine Gedanken kreisten um Aurelia, Gesprächsfetzen kamen ihm in den Sinn, wo er vielleicht besser dieses oder jenes gesagt hätte.
    Erst als sich die Dorfweide vor ihm auftat, gelang es ihm, sich ein wenig auf den unebenen Weg zu konzentrieren – Helena sollte ihre Kunstfertigkeit im Gebeinerichten nicht noch einmal unter Beweis stellen müssen.
    »Hände hoch oder ich schieße!«
    Gregor fuhr zusammen, als er den Gewehrlauf im Rücken spürte. Er wollte etwas sagen, aber ihm blieb die Luft weg.
    »Hände hoch, habe ich gesagt!«
    Das war doch die Stimme einer Frau? »Was wollen Sie von mir?«
    »Oh, das frage ich dich, du … du dreckiger Lumpensammler ! Scher dich bloß fort von meinen Kühen!«
    »Ernestine? Bist du das?«
    Das Gewehr wich aus seinem Rücken, und er drehte sich achtsam um. Es war tatsächlich Ernestine, die Frau des Kutschers, der ihn stets von der Poststation zum Stift und wieder zurück gebracht hatte.
    »Graf von Herberstein?«, setzte nun auch bei ihr das Erkennen ein. »Oh, verzeihen Sie bitte vielmals. Wie sollte ich ahnen, dass Sie in solchen Lumpen stecken, werter Graf? Bitte verzeihen Sie mir! Es war auch nur ein Stock; ich bin
einfach so erschrocken. Zuerst dachte ich, mein Mann, Gott hab ihn selig, würde mir leibhaftig erscheinen. Doch mein lieber Mann hatte immer ordentliche Sachen zum Anziehen. «
    »Schon gut, Ernestine, schon gut. In diesem Aufzug konntest du mich nicht erkennen – schon gar nicht, wenn wir uns im Dunklen auf der Kuhweide begegnen. Was machst du überhaupt hier draußen?«
    »Oh, ich … ich wollte nur nach den Kühen sehen.«
    »Mitten in der Nacht?«
    »Oh … nun ja, warum nicht? Schließlich sind sie krank.«
    Gregor zog die Stirn in Falten und musterte Ernestine.
    »Und ich konnte nicht schlafen!«, fügte sie hinzu. »Ich kann schon seit einigen Nächten keinen Schlaf mehr finden. Seit dem furchtbaren Kutschunfall. Ein Mädchen, Helena heißt sie, hat unserer gnädigen Fürstäbtissin das Leben retten können. Aber für meinen Mann kam jede Hilfe zu spät.«
    »Dein Mann ist bei dem Unfall gestorben? Nein, das wusste ich nicht! Ich bin auch sozusagen nicht offiziell im Stift. Du hast mich also nicht gesehen, verstehst du? Schwörst du mir, Stillschweigen zu bewahren?«
    Ernestine hob sofort die Hand und spreizte die Finger zum Zeichen. »Ich schwöre!« Auf sein Nicken hin senkte sie den Arm. Dann legte sich ihre Stirn in Falten. »Aber darf ich bitte wissen, was Sie des nächtens bei meinen Tieren suchen?«
    »Ich … ich brauchte frische Luft und …«
    »Können Sie auch nicht schlafen? Ich halte es wirklich kaum aus in meinem Bett. Von unten poltert meine kranke Tochter, und von oben sieht mein Mann auf mich herab,
während von der Seite noch sein Leichengeruch aus der Stube dringt. Es ist zum Davonlaufen! Ich bin so froh, wenn er bald seine letzte Ruhe findet. Aber damit beginnen meine Sorgen erst richtig. Nach der Beerdigung werde ich keinen Kreuzer mehr in der Tasche haben. Wovon soll ich

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