Mädchen und der Leibarzt
frei!
Drum will ich auf immer den Sorgen entsagen
Und will dich auch nimmer mit Willen verklagen.
Man kann ja im Herzen stets lachen und scherzen
Und denken dabei: Die Gedanken sind frei!«
Erleichtert, niemandem begegnet zu sein, erreichte er den Flur des Damenbaus. Innerlich pries er den geregelten Tagesablauf der Gräfinnen, dessentwegen ihm noch keine Dame zur Unzeit begegnet war. Es drängte ihn danach, in Aurelias Zimmer zu gehen, auch wenn die Angst vor dem, was ihn dort erwartete, so stark war, dass er unverrichteter Dinge wieder gehen wollte. Doch er musste nachsehen, auch um Helena zu beruhigen.
Sachte klopfte er an, doch als eine Reaktion ausblieb, ging er hinein. Seine Hoffnung, Aurelia schlafend im Bett vorzufinden – erschöpft, da sie das getrunkene Wohlverleih erbrochen hatte –, zerschlug sich. »Aurelia?«, fragte er leise. Er schaute in alle Ecken, sah nach, ob sie irgendwo auf dem Fußboden oder hinter dem Paravent lag. Musste er tatsächlich ein Einsehen haben, dass die Behandlung des Äskulap womöglich zu spät gekommen war und es für sie keine Rückkehr mehr gegeben hatte? Es war ihm unmöglich, einen endgültigen Abschied ins Auge zu fassen, als er langsam das Zimmer verließ und den Flur überquerte. Es war immer noch Hoffnung in ihm, dass sie nicht genug getrunken hatte, um einer Vergiftung zu erliegen und der Äskulap gerade dabei war, mit einem Aderlass alles wieder ins Reine zu bringen.
Gregor betrat das Sternenzimmer und ging an den Bücherregalen entlang bis in die hintere Nische des Raumes. Helena hatte sich auf dem Bett zusammengekauert und den Kopf unterm Kissen vergraben. Vorsichtig hob er es an.
»Gregor?«, murmelte sie schlaftrunken.
»Schhht«, machte er. »Ich bin es, ja. Schlaf weiter.« Behutsam legte er sich zu ihr.
»Gregor, ich wollte sie doch nicht umbringen!«, murmelte sie.
»Das hast du auch nicht getan, Helena.« Er streichelte ihr über die Schulter. »Du bist nicht schuld. Du kannst nichts dafür! Aurelia wollte es so. Du hättest es nicht verhindern können.«
»Doch bestimmt!«
»Beruhige dich …«
Sie begann bitterlich zu weinen und rang nach Luft. »Du weißt ja nicht, wie schlimm das ist, wenn man das Leben eines Menschen auf dem Gewissen hat!«
»Doch, das weiß ich«, flüsterte er heiser. »Ich war Soldat, vergiss das nicht.«
»Aber ich wollte Aurelia doch nicht umbringen!«
Behutsam streichelte er ihr über den Kopf. Ihre Haare fühlten sich weich an, ohne jegliches Puder und Schmalz. Sanft strich er ihr eine vom Weinen feucht gewordene Strähne aus dem Gesicht und umschloss vorsichtig ihre Hand. Sie wehrte sich nicht dagegen.
»Schau mal, Helena, was du für eine gute Ärztin bist«, sagte er. »Ich kann meinen Arm schon wieder ein wenig bewegen, und wenn er ganz gesund ist, dann werde ich dich zum Dank dafür umarmen und durch die Luft wirbeln. Dann weißt du, was es heißt, vor Glück zu schweben.«
Er bekam nur ein Schluchzen zur Antwort. »Ich werde nie mehr glücklich sein, nie mehr!«
»Komm in meinen Arm, Helena.« Ihr Gesicht war in der Dunkelheit kaum zu erkennen, aber sie war ihm so nah.
Ihre Augen waren geöffnet, und er hörte ihren Atem. »Keine Angst. Ich möchte dich einfach nur festhalten und auf dich aufpassen. Ich bin für dich da, Helena.«
Sie fing wieder an zu weinen, rutschte aber Stück für Stück näher. Bis er sie endlich im Arm hielt. Zärtlich fuhr er ihre Schläfe entlang. Wie gerne hätte er ihr jetzt die Tränen aus den Augenwinkeln geküsst. Aber das durfte er nicht.
»Helena, weißt du was?«, fragte er stattdessen. »Wenn du möchtest, nehme ich dich bald einmal in einem Freiballon mit. Auch in Wien werden seit der Revolution mehr und mehr Montgolfièren gebaut. Man kann damit wirklich fliegen! Kannst du dir vorstellen, wie schön es ist zu fliegen?«, flüsterte er. »Man schwebt über alles hinweg. Über Dörfer, Häuser, Flüsse und Wälder. Die Menschen, alles wird ganz klein.«
Helena war still geworden. Sie lag auf dem Rücken und lauschte in der Dunkelheit seinen Worten: »Man ist dort oben ganz alleine. Nur du selbst, das Knistern des Strohfeuers im Ballon und der rauschende Wind. Alles wird unwichtig. Und der Wind kann die Gedanken davontragen. Das stimmt wirklich. Man steht nur da, sieht hinunter, und alles kommt einem plötzlich ganz leicht vor.«
»Oh Gregor, wie schön wäre es, ein Engel zu sein.«
»Aber dann wärst du doch tot! Das musst du nicht sein, um dich in den Himmel
Weitere Kostenlose Bücher