Maedchenauge
Frage gestellt, von den kleinen Details angefangen bis hin zum Sinn des großen Ganzen und der eigenen Fähigkeiten überhaupt. Polizisten, die länger in einer Mordkommission tätig waren, haben hundertfach erlebt, wie auf erhoffte Durchbrüche die Krise folgte.
Lily wusste, dass sie jetzt gefragt war. Sie musste den Ausweg finden, denn vorher würden sie alle diesen Raum nicht verlassen können.
»Frau Bardel, Ihre Einwände sind wichtig«, sagte sie bedächtig und in sachlichem Ton. »Erlauben Sie mir, Ihnen allen eine Frage zu stellen. Wie liefen die Ermittlungen bisher? Also bevor ich die Untersuchung übernommen habe?«
Belonoz blickte ins Leere. Steffek sah kurz Lily an, senkte den Blick aber sofort wieder. Metka und Kovacs schauten einander an, danach beide gleichzeitig Nika Bardel.
Und Bardel merkte, dass sie sich nicht einfach wieder aus einer Debatte ausklinken konnte, die sie angestoßen hatte. »Beim ersten Fall, also beim Mord an Sabine Foltinek, haben wir schon das Privatleben erforscht. Aber Ihr Vorgänger hat eher die These vertreten, dass ein Psychopath am Werk ist. Wegen der Umstände der Tat, natürlich wegen der ausgestochenen Augen. Der zweite Mord in derselben Weise hat seine Ansicht bestätigt.«
»Schön, aber in welche Richtungen haben Sie ermittelt?«
»Abgesehen vom privaten Umfeld des Opfers haben wir uns nach einschlägig Vorbestraften umgeschaut. Also die übliche Routine. Wir haben nach Leuten gesucht, die für diese Tat in Frage kämen, weil sie sexuell oder psychisch gestört sind.«
»Hört sich sehr gut an. Eine exzellente Strategie. Zu welchem Ergebnis sind Sie gelangt?«
Bardel bewegte sich nach wie vor kaum. Aber der Blick, mit dem sie Lily bisher fixiert hatte, war nun weniger starr, sondern wanderte durch den Raum. Wie auf der Suche nach einem festen Punkt. »Wir haben alle abgecheckt, die irgendwie auffällig geworden sind. Bis hin zum letzten Exhibitionisten. Dann haben wir im einschlägigen Milieu recherchiert, bei Prostituierten oder Zuhältern. Wir haben nach gewalttätigen Gästen gefragt. Nach Leuten, die gerne fesseln und dabei vielleicht schon einmal ausgezuckt sind. Außerdem haben wir die österreichischen Pornoproduzenten gefragt, ob sie Personen kennen, die ihnen irgendwie auffällig vorgekommen sind, zum Beispiel brutal oder sadistisch.«
»Okay, Frau Bardel, das waren lauter Ermittlungen, die wichtig und richtig waren. Aber noch einmal, was war das Ergebnis?«
»Null«, sagte Bardel überraschend kleinlaut.
»Was würden Sie also vorschlagen, Frau Bardel? Wo und wie sollen wir weitersuchen?«
Unvermittelt war Lily zu einem sanften, verständnisvollen Tonfall umgeschwenkt. Nika Bardel schien für einen Augenblick lang überfordert.
Schließlich raffte sie sich doch zu einer Antwort auf. »Es liegt natürlich bei Ihnen, die Richtung zu bestimmen, in die ermittelt wird … Es ist mir nur … komisch vorgekommen und ziemlich unpassend … diese ganzen privaten Details … Was ist, wenn es jemand war, den wir einfach nicht kennen? Der noch niemals irgendwo aufgefallen ist. Ein Nobody, der sich in schwarzes Leder hüllt und tötet, aber sonst irgendwo in seiner Wohnung sitzt oder mit seinen Kindern spielt. Da wäre es völlig sinnlos, im Privatleben der Opfer herumzuwühlen.«
Lily nickte. »Das wäre tatsächlich sinnlos, wenn dieser Nobody nie etwas mit diesem Privatleben zu tun gehabt hätte. Wenn ein völlig Fremder, der noch niemals irgendwie und irgendwo auffällig geworden wäre, urplötzlich beschlossen hätte, in Wien allein lebende Studentinnen ähnlichen Alters auf ähnliche Art und Weise zu ermorden. Ohne nennenswerte Spuren oder Hinweise zu hinterlassen. Wenn es so wäre, könnten wir eigentlich gar nichts tun. Außer abzuwarten, bis irgendein Zufall uns irgendwann zum Täter führt. Oder wir überlegen, ob wir dem Täter eine Falle stellen können. Gibt es dafür Ideen?«
Bardel schwieg, obwohl alle Blicke auf sie gerichtet waren.
»Leute, das genügt«, sagte Belonoz, »dass wir den Täter noch nicht haben, ist blöd genug. Aber es wäre eine Katastrophe, wenn man uns vorwerfen könnte, wir hätten nicht genügend ermittelt. Das wäre für jeden von uns das Ende seiner Polizeilaufbahn. Das absolute Ende. In meinem persönlichen Fall ist das vielleicht egal, mich würde man irgendwohin befördern. Aber dass an diesem Tisch ein paar Menschen sitzen, die noch so etwas wie eine Karriere erleben möchten, weiß ich ganz genau.«
Lily sah
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