Maedchenauge
Lily. Offenbar gab es den Wunsch, die ganze Angelegenheit rasch zu einem Abschluss zu bringen und einen Schuldigen zu präsentieren. Ob manche Fragen ungeklärt bleiben würden, war da nicht mehr von Interesse. Angesichts der exzellenten politischen Beziehungen, die Lenz pflegte und denen er auch seinen Posten verdankte, konnte ein diesbezüglicher Hintergrund nicht ausgeschlossen werden. Manch Mächtige in Wien wünschten sich offenbar, dass Ruhe einkehre. Auch auf die Gefahr hin, dass es einen Falschen treffen könnte. Wobei die Tatsache, dass Sebastian Emberger tot war, alles leichter machte. Die Sache wäre rasch vom Tisch, weil nicht einmal mehr ein Gerichtsverfahren die Gemüter erregen würde.
Lily wusste diese Zeichen zu deuten. Von nun an musste sie auf der Hut sein.
Und Verbündete finden.
*
»So weit ist es schon«, sagte Belonoz. »Wenigstens weiß man, woran man ist.«
Er saß mit Lily in seinem Büro. Lily hatte ihn zu einem Gespräch gebeten, noch vor der allgemeinen Lagebesprechung. »Jetzt fangen die politischen Interventionen an. Das war ohnehin nur eine Frage der Zeit. Die Presse schießt aus allen Rohren. Und die Politiker machen sich deshalb in die Hose.«
»Sie glauben, dass hinter den Worten von Lenz mehr steckt?«, fragte Lily.
»Ich kenne Lenz gut. Ein typischer Vertreter des Systems.«
»Was für ein System meinen Sie?«
»Den politisch-medialen Justizkomplex. Lenz ist ein Netzwerker allererster Güte. Damit hat er einiges erreicht. Aber er will mehr. Und ewig Zeit hat er in seinem Alter auch nicht mehr.«
»Was will er denn werden?«
»Richter am Verfassungsgerichtshof zum Beispiel. Oder Justizminister. Vielleicht sogar Bundespräsident. Falls er es schafft, sich zum gesetzestreuen Beamten zu stilisieren, der stets nur das Wohl des Landes im Sinn hat. Es gibt genügend Österreicher, die auf einen derartigen Schwachsinn hereinfallen. Weil sie nicht wissen, was hinter den Kulissen passiert.«
»Also müsste es auch in seinem Interesse sein, dass dieser Fall gründlich aufgeklärt wird, nicht nur schnell.«
Belonoz schüttelte verächtlich den Kopf. »Lenz verhält sich wie ein Politiker. Er befindet sich in ständigem Wahlkampf bei den Mächtigen und Einflussreichen. Und Politiker benötigen für ihre Bilanz nicht unbedingt echte Erfolge. Sondern Resultate, die sie als Erfolge interpretieren können. Nur Tatenlosigkeit wird bestrraft. Genau so handelt Lenz. Er sucht irgendein Resultat. Mit der Betonung auf irgendein .«
»Gut, aber ein Serienmörder ist eine Sache für sich. Wenn Emberger unschuldig war, könnte der Täter wieder zuschlagen. Dadurch würde unweigerlich jeder sehen, dass hier kein …«
»Und wenn es bei den vier Morden bleibt, Frau Doktor? Sebastian Emberger wäre plötzlich die Lösung aller Probleme. Sollten Sie oder ich versuchen, weiter zu ermitteln, wird man uns behindern. Bis wir keine Chance mehr haben, jemals die Wahrheit herauszufinden.«
»Nehmen wir an, dass es zu einem neuen Mord kommt …«
»Dann wird man von einem Nachahmungstäter sprechen, einem Trittbrettfahrer. Ich habe das erlebt. Wenn später die Wahrheit doch noch ans Licht kommt, kümmert sich niemand mehr darum. Und alle, die unbequeme Meinungen vertreten, werden bis dahin als Spinner abgetan.«
Lily runzelte die Stirn. »Ich bin nicht sicher, ob …«
»Politiker lieben einfache Lösungen. Fliegt eine Sache irgendwann auf, suchen sie Sündenböcke. Und beschuldigen uns, sie falsch informiert zu haben. Oder sie wenden andere Methoden an. Das ist die Stunde der Helfershelfer.«
»Sie hören sich an wie ein Verschwörungstheoretiker, Herr Major.«
Belonoz lächelte sarkastisch. »Frau Doktor, Sie erinnern sich wohl kaum an den STEVO-Skandal vor dreißig Jahren. Der Firmenchef hat an einer Autobahnraststätte einen tödlichen Herzinfarkt erlitten. Sein Hausarzt hat von Herzproblemen nichts gewusst. Der Waffennarr und Extremist Blumenau hat in seiner videoüberwachten Zelle Suizid begangen. Und der lebenslustige Verteidigungsminister Litzenberg hat sich während einer Jagd erschossen. Ein Linkshänder, der die Pistole mit der rechten Hand bedient haben soll. Zuvor hat es Gerüchte um einen illegalen Waffendeal mit dem Nahen Osten gegeben. So lösen sich Probleme in Luft auf. Gegen Tote wird nicht ermittelt.«
Lily wusste nicht, wie sie jetzt argumentieren sollte. Vieles in ihr sträubte sich dagegen, wie ihr Belonoz die Welt erklärte. Sie mochte keine alternden Menschen, die
Weitere Kostenlose Bücher