Maedchenauge
von Lily abzuwenden, während er an seinem Weinglas nippte und ihr völlig unbefangen zulächelte.
Lily erwiderte das Lächeln. Sein Starren empfand sie hingegen als leicht aufdringlich. Kannte er sie vielleicht? Sie war überzeugt, ihn noch nie gesehen zu haben.
Vielleicht gefalle ich ihm einfach, überlegte sie, und der Weißwein ließ diesen Gedanken völlig sorgenfrei und fast schon verlockend erscheinen.
Er war ihr auch nicht völlig zuwider. Wie eine kleine Ewigkeit kam es ihr vor, seitdem sie das Gefühl gehabt hatte, von einem akzeptablen Mann beachtet worden zu sein. Doch machte Lily nun die Erfahrung aller, deren Bild durch die Medien gegangen war. Sie konnte nicht sicher sein, ob der Blick des Mannes unschuldig und aus dem Moment geboren war. Oder ob ihm die Neugier an einer Person zugrunde lag, über die im Fernsehen berichtet worden war, weil sie einen Mörder suchte.
Lily unterhielt sich mit Albines Radiokollegin, als Christoph wiederkam. Er wollte an das frühere Gespräch anknüpfen. Doch er kam im falschen Moment, wie schon immer.
Lily bemerkte, dass sie nur noch zu lustigem Smalltalk zu gebrauchen war. So blieben sie zu dritt und sprachen über interessante Destinationen für den Sommerurlaub. Einmal sah Lily hinüber, wo Albine noch immer in unveränderter Position lag und rauchte. Und sie bemerkte, dass das Interesse des Dunkelhaarigen weiterhin ihr galt und nicht der dünnen Brünetten.
Um zwei Uhr beschloss Lily, nach Hause zu gehen. Sie hatte die Party genossen und wäre gerne noch länger geblieben. Das Ambiente war verführerisch, und sie wusste jetzt noch besser, was sie in New York vermisst hatte. Was ihr entgangen war, als sie in New York nur Zeit für Berufliches und eben diesen einen Mann gehabt hatte. Lily schalt sich selbst dafür, wie dumm sie gewesen war. Wie sie das eigene Leben eingeengt hatte, und dabei verdrängt hatte, was die Welt mit all ihren Menschen zu bieten hatte. Wie sie vernünftig gewesen war, anstatt neugierig zu sein.
Doch dass morgen ein Arbeitstag auf sie wartete, machte auch der Grüne Veltliner nicht ganz vergessen. Immerhin hatte er dafür gesorgt, dass keine Schuldgefühle bei ihr aufgekommen waren, nicht schon längst im Bett zu liegen und brav zu schlafen.
Lily verabschiedete sich von allen, die sie kannte. Christoph bedauerte ihren Abschied und kündigte an, sie in den kommenden Tagen anzurufen. Natürlich erst nachdem er dafür bei ihr um Erlaubnis angesucht hatte. Er war und blieb ein wohlerzogener Mann. So anständig, und so vorhersehbar.
Mit Albine dauerte es länger. Ihr sommersprossiges Gesicht war leicht gerötet, was sie aussehen ließ wie ein junges Mädchen, das bei einer Peinlichkeit ertappt worden war. Lily und Albine umarmten einander herzlich und lange, dann versprach Lily, dass sie sich am Wochenende sehen oder zumindest ausgiebig telefonieren würden.
Als sie vor dem Hauseingang stand, genoss Lily die frische Sommerluft. Ein leichter, angenehmer Wind kam auf. Lily fiel der gute Geruch auf. Womöglich stammte er von den Bäumen an der nahen Ringstraße, oder vielleicht sogar von viel weiter, vom Rathauspark. Sie fühlte sich wohl. Plötzlich war auch für sie Sommer in Wien. Alles war in Ordnung. New York war vergangen. Und diese Morde würde sie schon irgendwie lösen. Ab morgen wieder. Diese schönen, ruhigen Momente mitten in der Stadt wollte sie genießen.
Sie tat ein paar Schritte die Mölkerbastei hinunter. Über den Ring wollte sie nach Hause schlendern. Wie durch Zufall wandte sie sich um und sah hinauf zu den geöffneten Fenstern, aus denen sanfte Musik ertönte.
Im Rechteck des Hauseingangs zeichnete sich die Silhouette eines schlanken Mannes vor der dunkelbraunen Holztür ab. Der Mann nahm die zwei Stufen hinunter zum Gehsteig. Er wurde vom Licht der Straßenbeleuchtung erfasst.
Lily erkannte ihn sofort. Es war der Mann, der sie so intensiv angeblickt hatte.
Er steckte sich eine Zigarette in den Mund, entzündete sie mit einem Feuerzeug, ging noch ein paar Schritte, blieb stehen und rauchte.
Lily schien es, als sei er nicht zufällig hier. Als sei er ihr gefolgt. Wollte er mit ihr hier allein sprechen? Oder was wollte er überhaupt von ihr? Und warum sagte er nichts, sondern blieb einfach stumm stehen?
Doch Lily hatte keine Lust auf ein nächtliches Gespräch. Sie wollte jetzt niemanden mehr kennenlernen. Sie hatte mehr als genug Veltliner getrunken und wollte nach Hause.
»Mach’s gut, Fremder, auf ein anderes
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