Maedchenauge
Mal«, rief sie ihm zu und setzte ihren Weg fort.
Von der Mölkerbastei bog sie nach rechts in Richtung Ring ab. Taxis rasten vorbei, zwei Radfahrer wichen einer Gruppe von Jugendlichen aus. Lily fühlte etwas, das sie nicht beschreiben konnte. Instinktiv wandte sie sich um.
Da war er. Etwa dreißig Meter von ihr entfernt. Er musste ihr gefolgt sein. Jetzt war er sogar stehen geblieben und sah in ihre Richtung.
Lily gefiel das nicht. Sein Verhalten schien ihr seltsam und unheimlich. Wahrscheinlich hätte sie ihm auf der Mölkerbastei nichts zurufen sollen. Möglicherweise hatte ihn das erst animiert und angestachelt.
Sie wählte einen Weg ganz nahe an der Fahrbahn und beschleunigte ihre Schritte. Im Gehen öffnete sie ihre Handtasche. Sie holte das Handy heraus und tippte den Notruf der Polizei ein. So wäre nur noch ein Knopfdruck nötig, um die Verbindung herzustellen. In der Polizeizentrale war ihre Nummer bekannt. Selbst wenn sie gar nichts sagte, würde man umgehend ein paar Beamte losschicken, sobald das Gerät geortet war.
Gegenüber der Universität blickte sie sich erneut rasch um. Da stand er, beim Treppenabgang zur U-Bahnstation Schottentor. Immerhin weiter entfernt als zuvor. Mit den Händen in der Tasche, regungslos. War es das jetzt gewesen?
Etwas später, als sie vor der Votivkirche angelangt war, riskierte Lily einen weiteren Blick zurück. Niemand war zu sehen. Das Spiel schien beendet.
Sie erreichte ihr Wohnhaus und betrat es hastig. Mit dem alten Aufzug fuhr sie hinauf und war erleichtert, die Tür hinter sich absperren zu können. Kurz darauf machte sie sich Vorwürfe. Sie hatte die Situation wohl überinterpretiert. Der Mann hatte sich zwar seltsam verhalten. Doch war er möglicherweise auch nicht mehr ganz nüchtern gewesen.
Lily fühlte sich ausgetrocknet und trank reichlich Wasser. Als sie ihr Handy auf den Tisch in der Küche legte, fiel ihr beim Blick auf das Display auf, dass jemand sie gegen Mitternacht angerufen hatte. Die Nummer erkannte sie sofort. Es war die des Portiers der Staatsanwaltschaft. Lily überlegte, worum es sich handeln könnte. Sie hatte an sich wenig Lust auf ein Telefonat. Lieber wollte sie die Nachwirkungen der schönen Party genießen.
Doch ihre Neugier siegte. Sie rief zurück.
»Frau Doktor, guten Abend«, meldete sich der diensthabende Portier. »Ich habe Sie angerufen, weil Sie gebeten hatten, dass man Sie verständigt, wenn interessante Post für Sie eintrifft.«
»Natürlich, klar«, erwiderte Lily. »Was ist es denn?«
»An sich nichts besonderes, ein Brief halt, ganz normal.«
»Absender?«
»Keiner. Aber adressiert an Sie persönlich. Er liegt jedenfalls für Sie bereit. Wenn es dringend ist, können Sie ihn auch jetzt schon haben.«
Lily schwankte. »Wäre das viel Mühe, wenn Sie jetzt …?«
»Überhaupt nicht, Frau Doktor, ich bitte Sie. Ich gebe das einer Funkstreife und die bringt Ihnen den Brief. In etwa einer Viertelstunde haben Sie ihn. So um kurz nach halb drei.«
Lily nahm die Uhrzeit mit Ernüchterung zur Kenntnis. »Machen Sie das bitte. Danke, dass Sie mich angerufen haben.«
Sie verfluchte ihre Neugier. Aber sie wollte unbedingt gleich wissen, was ihr jemand mitzuteilen hatte. Vielleicht war es eine Belanglosigkeit, dann war es auch egal. Sie bräuchte ohnehin noch zehn Minuten, um fertig fürs Bett zu sein.
Sie putzte sich die Zähne, wusch ihr Gesicht und trug eine Creme auf. Als sie aus dem Badezimmer kam und noch einmal in die Küche wollte, kam sie an der Eingangstür vorbei. Sie hörte, dass im Stiegenhaus der Aufzug nach unten fuhr. Offenbar war noch jemand nach ihr nach Hause gekommen. Sie blieb stehen, um zu erfahren, wer das war. Der Lift fuhr wieder nach oben. Er hielt in ihrem Stockwerk. Jemand stieg aus.
Lily wunderte sich. Sie überlegte, ob das schon die Polizisten mit dem Brief sein konnten. Und fragte sich, wieso sie nicht unten an der Gegensprechanlage geläutet hatten.
Nichts war zu hören. Behutsam ging Lily zur Tür. Leise schob sie den Schutz vor dem Türspion beiseite und blickte hinaus. Zuerst sah sie nichts, nur den schummrig beleuchteten Gang vor ihrer Tür. Dann war da plötzlich eine dunkle Gestalt. Sie stand da. Der Türspion lieferte eine Weitwinkelansicht, Details waren nicht zu erkennen.
Die Gestalt war großgewachsen und schwarz gekleidet.
Das war kein Polizist.
Lily erstarrte. Sie fühlte ihr Herz wie wild schlagen, so laut, dass sie befürchtete, man würde es sogar vor der Tür hören.
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