Maedchenauge
dass Sie gekommen sind. Die Form der Einladung war ungewöhnlich, ich weiß. Aber in dieser Situation ist mir nichts Besseres eingefallen. Ich bekenne mich schuldig.«
Er stand anderthalb Meter von Lily entfernt im Schatten des Säulengangs und machte nicht die geringsten Anstalten, daraus hervorzutreten.
»Ich habe keine Zeit für Witze«, sagte Lily ruhig, aber streng. »Wer sind Sie und was wollen Sie?«
Der Mann nickte, seine Miene verzog sich zu etwas, das vielleicht ein Lächeln sein sollte.
Versuch das erst gar nicht, dachte Lily, das steht dir nicht.
Das war kein Mann, der zu lächeln pflegte. Sondern einer, der im Schatten blieb.
»Das ist kein Scherz und ich werde Ihre Zeit nicht verschwenden«, sagte er und zündete sich eine Zigarette an. »Ich habe es nämlich genauso eilig wie Sie.«
»Wer sind Sie?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Zumindest jetzt nicht. Das wäre angesichts meiner Position reiner Wahnsinn. Aber ich weiß etwas über die Morde, die Sie untersuchen. Und Sie sollten das auch wissen.«
»Wenn Sie mir nicht sagen, wer Sie sind, hat dieses Gespräch keinen Sinn. Und vergessen Sie nicht, als Staatsanwältin kümmere ich mich um alle Personen, die sich irgendwie verdächtig machen und …«
»Und um Leute, die sich einmischen, auf sich aufmerksam machen. Ist mir alles bewusst. Mein Verhalten ist verdächtig. Sie könnten mich sofort festnehmen und verhören lassen. Das wäre sogar Ihre Pflicht.«
Unaufgeregt und unpersönlich hatte er diese Worte gesprochen. Als befürchtete er nicht eine Sekunde lang, dass Lily entsprechend handeln würde.
Ruhig nahm er einen Zug von seiner Zigarette und fuhr fort. »Nur geht es hier nicht um mich. Sondern um die Frage, ob Sie den Mörder fassen möchten. Beziehungsweise die Mörder. Ich gehe davon aus, dass Sie zumindest das schon ahnen. Wir wissen beide, dass das Geschreibsel der Drecksblätter nichts mit der Realität zu tun hat.«
Da war er wieder. Zum zweiten Mal innerhalb von zwölf Stunden. Der Hinweis darauf, dass mehrere Täter involviert waren.
Lily versuchte, sich die Irritation nicht anmerken zu lassen. Sie war mit jemandem konfrontiert, der etwas wusste. Und es mitteilen wollte, aus welchem Grund auch immer.
Der Mann konnte die Wahrheit sagen. Oder ein Spiel treiben. Lily war skeptisch, ob zwei dermaßen zeitnahe Zufälle wahrscheinlich waren. Erstens der Brief des angeblichen Mörders und zweitens dieser obskure Mensch, der sich als Informant andienen wollte.
»Ich sehe Ihnen an, Frau Doktor Horn, dass Sie nicht überrascht sind. Offenbar besitzen Sie bereits Hinweise auf mehrere Täter. Woher Sie diese Hinweise haben, weiß ich nicht. Aber sie stimmen, das kann ich Ihnen bestätigen.«
Lily wurde ungeduldig. »Deshalb werden Sie verstehen, dass ich Sie nun als potenziell wichtigen Zeugen …«
»Dass Sie mich verhören müssen. Völlig logisch. Aber das würde zu nichts führen. Wenn Sie sich jetzt umdrehen, was Sie selbstverständlich nicht tun werden, aber nehmen wir es an … dann sehen Sie links das Parlament und rechts das Rathaus. Und in der entgegengesetzten Richtung das Bundeskanzleramt. Das sind die Symbole der politischen Macht in dieser Stadt. Und genau in diesem Spannungsfeld bewege ich mich.«
Er nahm noch einen Zug und warf den Stummel fort, ohne ihn auszutreten. »Ich bin jemand, der Bescheid weiß. Das ist die Antwort auf Ihre Frage, wer ich bin. Ich weiß, was hinter den Kulissen der Macht geschieht. Und ich weiß auch, was Sie alles nicht wissen, Frau Doktor Horn. Nämlich, dass Sie sich in diesen Kulissen bewegen. Sie stehen auf der Bühne, haben aber keine Ahnung, welches Stück aufgeführt wird. Keine gute Situation, wenn die Vorstellung erfolgreich enden soll.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich bin vielleicht der Einzige, der überhaupt nichts von Ihnen will. Sondern ich möchte Ihnen etwas schenken. Das Wissen, womit Sie es zu tun haben. Damit Sie gewappnet sind.«
»Geht es hier um Politik?«
»Am Rande, ja. Das ist das Erste, das Sie verstehen müssen. Der Grund, warum man Ihnen diese Morduntersuchung anvertraut hat, ist rein politischer Natur.«
»Was meinen Sie damit?«
»Es gibt Leute, die angenommen haben, dass Sie ideal für die Ermittlungen wären. Weil Sie jung und relativ unerfahren sind. Abgesehen von diesem Glückstreffer mit Salusek.«
Ohne den kleinsten Anflug von Scheu hatte er Lily direkt ins Gesicht mitgeteilt, was er von ihrer Karriere hielt. Dass er richtig lag, wusste
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