Maedchenauge
Lebensjahrzehnt eingetreten war, hatte sie zu begreifen begonnen, was ein Psychiater und Psychotherapeut war. Eine Person, die sich der unsichtbaren, doch umso drängenderen seelischen Probleme der Menschen annahm.
Mit seiner unerschöpflichen Gabe des verständnisvollen Zuhörens und dem Talent, im richtigen Moment die geeigneten Worte zu finden, ohne je in die Rolle eines pädagogisch verformenden, sich mit schlichten Gebrauchsanweisungen für das Leben aufdrängenden Ratgebers zu verfallen, hatte er sie von der Kindheit durch die Jugend bis in ihr Frausein begleitet. Dem Kind Lily war er jemand gewesen, der auf Augenhöhe mit ihr, nicht von oben herab als alles besser wissender Erwachsener, gesprochen und diskutiert hatte. Durch ihn hatte sie gelernt, sich selbst als eigenberechtigtes Wesen zu sehen, das nicht den Erwartungen der Mitwelt, sondern den eigenen entsprechen musste.
Zugleich hatte sich in der kleinen Lily ein unbeugsamer Gerechtigkeitswille etabliert, der sie zusammen mit ihrem Selbstbewusstsein regelmäßig in Konflikte mit angemaßten Autoritäten geführt hatte, wovon ihre Lehrer ein Lied zu singen gewusst hatten. Später, wenn sie von pubertären Liebesverwirrungen und Identitätsproblemen geplagt worden war, hatte sie sich oft in die Wohnung ihres Wahlonkels in der Mondscheingasse geflüchtet, um je nach Stimmungslage begeistert, aufgeregt, wütend oder deprimiert ihre Seele zu entlasten. Dabei hatte sie erkannt, was Onkel Neubauer auszeichnete. Nämlich, dass er niemals beurteilte oder gar verurteilte, sondern sich stets bemühte, zu begreifen und zu analysieren. Diese Haltung gegenüber den Mitmenschen hatte sie im Lauf der Zeit übernommen und sich zu eigen gemacht. Sie war die Grundlage dafür gewesen, dass sie sich für das Studium der Rechtswissenschaften und den Beruf der Staatsanwältin im Besonderen entschieden hatte. Genau in diesem Bereich, wo es lediglich um Normen, deren Überwachung sowie die Bestrafung im Fall des Zuwiderhandelns zu gehen schien, tatsächlich jedoch stets der Mensch mit seinen Abgründen, Schwächen und Irrtümern im Mittelpunkt stand, hatte sie sich einbringen wollen. Ziel der Gesetze und Vorschriften war eine möglichst harmonisch zusammenlebende Gesellschaft, in der für einen gerechten Ausgleich der Interessen aller Bürger gesorgt wurde und Konflikte bereinigt werden konnten. Das hatte Lily als Herausforderung an sich selbst begriffen, weshalb ihr die Entscheidung gegen das lange erwogene Medizinstudium schließlich leichtgefallen war.
»Und, Lily, bereust du es noch immer nicht?«, fragte Onkel Neubauer und lächelte schalkhaft.
»Was denn?«
»Dass du nicht Ärztin geworden bist?«
»Das fragst du mich regelmäßig, Onkel. Du bist wie besessen von dieser Frage!«
»Stimmt. Weil ich eigentlich auf etwas anderes hinauswill …«
»Ich weiß. Ich sollte … deine Praxis übernehmen … Ja, manchmal bereue ich es. In schwachen Momenten. Am liebsten würde ich beides tun. Staatsanwältin und Psychiaterin beziehungsweise Therapeutin sein.«
»Gibt es in eurem Geschäft irgendwelche Vorschriften zur Unvereinbarkeit? Egal, Psychotherapeutin kannst du jedenfalls immer noch werden. Wäre ein nettes Hobby für die Pension, Lily.«
»Pension? Um Himmels willen. Daran will ich gar nicht denken.«
»Glaubst du, ich will das tun? Darum arbeite ich mit Ende siebzig immer noch. Das ist das Schöne an so einer Praxis. Da kann niemand kommen und einem anschaffen, dass man mit dem Arbeiten aufhören muss. Paradiesisch. Wobei mir überhaupt niemand irgendetwas anschaffen kann. Nicht, wann ich meine Ordination auf- oder zusperre. Oder welche Kleidung ich trage. Deshalb habe ich mir diesen Beruf ausgesucht.«
Onkel Neubauer und Lily hatten gerade das Mittagessen beendet. Eigentlich hatte auch Frau Neubauer teilgenommen, doch sie war, wie immer, ständig unterwegs gewesen zwischen dem Esszimmer und der Küche, um irgendetwas zu servieren, vorzubereiten oder abzuräumen.
Jetzt reichte es Onkel Neubauer. »Bleib endlich sitzen, Marta.«
Marta Neubauer erweckte nicht den Eindruck, sich allzusehr um die Anweisungen ihres Mannes zu kümmern. »Ich muss kontrollieren, ob in der Küche alles in Ordnung ist.«
»Was soll denn nicht in Ordnung sein? Wenn es dort brennt, werden wir es hier schon rechtzeitig riechen.«
Lily kannte das Ritual von anderen gemeinsamen Mahlzeiten. Sie genoss die Vertrautheit, die von diesen bekannten Verhaltensweisen ausging. Die Routine sorgte bei
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