Maedchenauge
zwischen uns ergeben. Das habe ich viel zu spät entdeckt.«
»Hast du versucht, eine Brücke über diesen Graben zu bauen?«
»Ich habe geglaubt, dass ich das mache«, sagte Lily leise. »Heute weiß ich, dass ich instinktiv das Gegenteil getan habe.«
»Weil du unbewusst dieses Gegenteil haben wolltest?«
»Ja, möglicherweise. Weil ich nicht ganz abschütteln kann, was mir mein Vater vermittelt hat. Und auch gar nicht will. Ich denke, dass er in einigen Punkten recht hatte. Man soll nicht zu viele Illusionen haben. Vielleicht auch gar keine. Nur hätte er mir das auf eine weniger harte Weise beibringen sollen. Und er hätte mich vor seiner Resignation verschonen sollen. Andererseits habe ich mich eben deshalb dazu entschlossen, aktiv zu sein.«
»Darum bist du Staatsanwältin geworden und nicht Psychiaterin.«
»Richtig. Die Psychiatrie wäre mir schon wieder zu klein, zu eng, zu privat geworden. Mir ist es darauf angekommen, in der Öffentlichkeit zu kämpfen. Und dort etwas zu bewirken.«
»Was du jetzt tust, Lily. Aber noch einmal zurück zu Ben. Hat sich der Zwist nicht überwinden lassen?«
Lily schüttelte so entschieden den Kopf, als müsste sie alles Unerwünschte loswerden. Als wäre das endgültige Urteil der letzten Instanz gesprochen. »Unmöglich. Und als Paul in mein Leben gekommen ist … Ich habe das zunächst nicht wahrhaben wollen. Als ich ihn vor einem Jahr kennengelernt habe, hätte ich nie gedacht, was daraus werden würde … Egal, es hat diese Beziehung gegeben … Affäre oder wie immer man das nenne soll … Jedenfalls hätte ich mich nie darauf einlassen sollen. Aber ich habe es getan. Als hätte ich die Verbindung zu Ben torpedieren oder zumindest auf eine Probe stellen wollen.
»Wie ist das passiert?«
»Ich war mit Ben auf einer Party von Albine … dort habe ich Paul kennengelernt, der in jeglicher Hinsicht das komplette Gegenteil von Ben ist. Schon auf dieser Party habe ich versucht, Paul von Ben fernzuhalten … Es war absurd. Von Anfang an war mir klar, dass zwischen ihm und mir etwas in der Luft war, das … Es hat geheim bleiben müssen. Obwohl zwischen Paul und mir noch gar nichts war.«
»Als wäre Paul ein Ausdruck für deine unbewussten Wünsche gewesen«, sagte Onkel Neubauer trocken und nahm einen tiefen Zug von seiner bereits kurz gewordenen Zigarre.
Lebhafte Zustimmung durchfuhr Lily. »Das wird der Grund sein, warum ich so rasant in die Geschichte mit Paul geschlittert bin. Heute kann ich kaum glauben, wie schnell das gegangen ist. Wir haben miteinander gesprochen und gelacht. Zwischendurch ist Ben aufgetaucht, den ich irgendwie weggeschickt habe … und plötzlich war ich mit Paul allein in einem engen Vorraum und … die Sache war nicht mehr aufzuhalten. Weil sie so unkompliziert war. Keine großen Gedanken oder Erwartungen. Sondern reine Sinnlichkeit.«
»Wahrscheinlich hast du das gebraucht.«
»Sicher sogar. Aber im Lauf der Zeit ist es anstrengend geworden. Ich war mit Ben verlobt, ich sollte die Hochzeit vorbereiten, meine Übersiedlung nach New York war fix … Ich musste geistig präsent sein und zugleich etwas verheimlichen, was mich enorm verwirrt hat … Dann hat Ben von diesem Doppelspiel erfahren. Ich muss noch herausfinden, wie das geschehen ist.
»Das weißt du nicht?«
»Keine Ahnung … jedenfalls stand ich vor einem Trümmerhaufen. Nach New York zu gehen war mein Versuch, alles wieder ins rechte Lot zu bringen. Was nicht geklappt hat. Ben war unrettbar verletzt. Mir gegenüber war er eisig. Ich kann ihm das nicht verübeln. In New York habe ich einen Neuanfang versuchen wollen … Es hat nicht funktioniert. Dort ist so vieles, an das ich geglaubt habe, gescheitert. Mein eigenes Verhalten ist der Grund dafür. Sonst nichts. Und niemand. Nur ich.«
Onkel Neubauer richtete sich aus seiner versunkenen, gebeugten Haltung auf. Neue Energie schien in ihn geflossen zu sein. »Und was machst du jetzt in Wien?«
»Ich suche nach geordneten Bahnen für mein Leben. Und ich knüpfe an meine alte Existenz als Staatsanwältin wieder an. Was etwas Beruhigendes hat. Alles ist vertraut, das erleichtert den Neuanfang. Gelegentlich kann ich mich der Illusion hingeben, es hätte gewisse Ereignisse in meinem Leben gar nicht gegeben … Aber ich habe mir eine Aufgabe aufgehalst, die viel zu … Ich hätte das ablehnen sollen.«
»Du meinst die Aufklärung dieser Serienmorde?«
Lily rollte mit den Augen, dabei blähte sie die Backen auf und ließ die Luft
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