Maedchenauge
gewisse Informationen haben möchte, findet Wege, sie sich zu beschaffen. Vor allem, wenn man die richtigen Beziehungen hat. Und davon würde ich bei der Frau Vizebürgermeisterin blind ausgehen.«
»Herr Major, Sie müssen mir glauben, dass ich echt keine Ahnung habe, was hier los ist. Ich bin dieser Frau noch nie begegnet. Warum wendet sie sich nicht offiziell an mich? Was soll diese Heimlichtuerei? Und was will sie überhaupt von mir?«
Belonoz lachte und goss Eistee in ein zweites Glas, das er Lily zuschob. »Willkommen in Wien. In dieser Stadt nimmt man nie den direkten Weg. Die Feigheit ist enorm. Niemand will sagen, worauf genau er aus ist. Aus Furcht, auf irgendetwas festgelegt zu werden. In Mailand und Rom und Madrid ist es lustigerweise ähnlich. Das muss der katholische Einfluss sein. In der Beichte sagt man die Wahrheit. Und in der Öffentlichkeit das, was gut klingt.«
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte Lily und erinnerte sich an die wütenden Worte von Magdalena Karners Vater. »Andererseits ist das nicht nur katholisch … Auch in protestantisch geprägten Regionen gibt es Doppelzüngigkeit. Ich habe es in New York erlebt … Vielleicht ist das einfach die Natur des Menschen.«
»Und Tiere tarnen sich. Das ist deren Art zu lügen.«
Erneut stand Lily auf. Sie nahm ihre Tasche. »Egal. Herr Major, machen Sie weiter. Sagen Sie Ihren Kollegen, was zu tun ist. Was es auch immer sein möge. Ich bin jetzt zum Mittagessen verabredet. Nachher komme ich zu Ihnen zurück. Einverstanden?«
»In Ordnung … Aber was genau … Wo sollen wir ansetzen?«
»Tun Sie, was Sie für richtig halten. Von mir aus auf gut Glück. Ich bin jetzt hungrig. Am Nachmittag sehe ich Sie wieder.«
Lily trat aus der Kriminaldirektion hinaus ins Freie und ging die Berggasse hinauf. Als sie die Ecke zur Währinger Straße erreichte, raste ein Ambulanzwagen mit Sirenengeheul in Richtung Allgemeines Krankenhaus.
Die Meteorologen der Radiostationen und Fernsehsender hatten sich bei ihren Prognosen nicht getäuscht. Der Tag war heißer geworden als alle Tage des Jahres bisher. Was manche Menschen leiden ließ. Und andere sterben.
*
Vielleicht war das nun der letzte, der alles abschließende Teil ihrer Heimkehr nach Wien. So ging es Lily, als sie die Wohnung von Onkel Neubauer betrat, die ungleich mehr Geborgenheit und Zuhause für sie bedeutete als jeder andere Ort in dieser Stadt. Mit Ausnahme ihrer eigenen vier Wände.
Diese Wohnung übte eine Doppelfunktion aus. Sie diente als Privatunterkunft und als Ordination, somit quasi als öffentlicher Ort. Dennoch war kein Bereich unpersönlich gehalten, nicht einmal das Behandlungszimmer, in dem Onkel Neubauer seine Patienten empfing. Sämtliche Wände waren mit Büchern übersät, nur um gelegentlich Platz für Bilder zu lassen und Onkel Neubauers Interesse an österreichischer Kunst der 1970er und 1980er Jahre zu dokumentieren.
Lily wusste nicht mehr, wann sie angefangen hatte, ihn Onkel Neubauer zu nennen. Es musste sehr früh in ihrer Kindheit gewesen sein, weshalb sie den genauen Zeitpunkt nicht mehr bestimmen konnte. Jedenfalls hatte sie ihn zum Onkel erkoren, was er faktisch gar nicht war. Ein Verwandtschaftsverhältnis bestand nicht, wohl aber ein Naheverhältnis. Zunächst zum Vater, dessen bester Freund er gewesen war, schließlich auch zur Tochter. In der Bezeichnung Onkel Neubauer drückten sich zwei entgegengesetzte Tendenzen aus. Einerseits die leicht Distanz schaffende Verwendung des Familiennamens, andererseits die Adoption als Familienmitglied. Diese Rolle hatte er tatsächlich übernommen, seine eigenen zwei Söhne, die er mit seiner Frau sehr jung bekommen hatte, waren längst aus dem Haus. Als er mit der kleinen Lily ins Gespräch gekommen war, hatte er sich in einem Alter befunden, das weder einem Bruder noch einem Großvater angemessen gewesen wäre. Folglich war er zum Onkel honoris causa ernannt worden.
Schon als Kind hatte Lily diese Wohnung als die Höhle eines Weisen, eines Philosophen empfunden. Was den Beruf von Onkel Neubauer ausmachte, hatte sie damals noch nicht verstehen können, jedoch die Umstände seiner Profession als äußerst geheimnisvoll empfunden. Er war ein Arzt und besaß deshalb eine Ordination. Dennoch ähnelte nichts in Onkel Neubauers Räumen dem, was Arztpraxen sonst charakterisierte. Ebenso wenig wie er jemals einen weißen Mantel trug oder mit irgendwelchen medizinischen Apparaten hantierte. Erst als Lily in ihr zweites
Weitere Kostenlose Bücher