Maedchenauge
Wahltermins, bei dem man noch einmal auf die auch angesichts von Pratorama kaum geminderte Beliebtheit des Bürgermeisters hatte setzen wollen, lagen die Nerven blank.
Entsprechend verlief die Sitzung. Sie fing mit einer zögerlich geführten Diskussion an und artete rasch in Schreiduelle aus. Und irgendwann fiel es, das sonst tabuisierte Wort: Pratorama .
Ein junger Delegierter aus dem zehnten Bezirk erwähnte es betont beiläufig und suhlte sich anschließend in der Befriedigung, die älteren Sitzungsteilnehmer damit provoziert zu haben. Er selbst gewann nichts damit, schon gar nicht an Respekt. Aber seine Wortmeldung veränderte den Charakter des Zusammentreffens. Die Panik vor einem Absturz bei der kommenden Wahl ergriff die Anwesenden. Plötzlich wurde davon geredet, wie wichtig es sei, rasch zu handeln und den Wählern Vertrauen einzuflößen.
Jemand erwähnte den Namen von Michael Schegula und pries ihn als würdigen Nachfolger des verdienstvollen, unglückseligerweise jedoch nicht mehr verfügbaren und für die Wahl wenig nützlichen Berti Stotz.
Schweigend hörte Schegula der hitzigen Diskussion zu. Freundlich nickte er jedem zu, der ihn als in dieser Situation idealen Bürgermeister skizzierte. Alles spitzte sich auf ihn zu, während er selbst gelassen lächelte.
Schließlich forderte ihn eine klare Mehrheit der Anwesenden auf, als Nachfolger zu kandidieren. Der Gedanke sorgte für helle Begeisterung. Umso größer waren das Erstaunen und das Unverständnis, als sich Schegula bei den Mitgliedern dieses Gremiums bedankte, das Amt des Wiener Bürgermeisters jedoch ablehnte. Man war allgemein bestürzt.
»Liebe Freunde«, sagte Schegula, »ich weiß es zu schätzen, welch Vertrauen mir entgegengebracht wird. Ich werde das nie vergessen. Aber wir sind in einer komplexen Situation. Die Wahl wird eine enorme Herausforderung darstellen. Deswegen müssen wir nach außen signalisieren, wie offen wir für Neuerungen sind. Was die Medien derzeit beschäftigt, kann durch einen geschickten Schachzug zum Verpuffen gebracht werden. Darum schlage ich für das Bürgermeisteramt eine Person vor, die mindestens so qualifiziert ist wie ich und zudem das ideale Signal für einen Aufbruch in dieser Stadt darstellt. Das ist es, was Wähler heute wollen: Veränderung. Ich bitte euch daher, Marina Lohner zur neuen Wiener Bürgermeisterin zu küren. Sie wäre außerdem die erste Frau an der Spitze von Wien.«
Das Erstaunen war groß. Manche Sitzungsteilnehmer wirkten, als würden sie es gleich Stotz nachtun und ebenfalls vom Schlag getroffen werden. Andere erstarrten vor Hilflosigkeit. Ausgerechnet Schegula, als enges Mitglied von Stotz’ Clique bekannt, hatte die umstrittene Außenseiterin als künftige Bürgermeisterin ins Spiel gebracht. Wie er das getan hatte, nämlich Lohner als Zeichen des notwendigen Wandels beschreibend, sorgte für Verwunderung und Verunsicherung.
Aber nicht lange. Jemand begann zu klatschen, andere folgten, schließlich wurden es immer mehr. Schegula ging zu Lohner, bedeutete ihr aufzustehen und applaudierte entzückt. Die Würfel waren gefallen. Keiner wagte es, sich dieser Bewegung entgegenzustellen. Jeder wollte im Mainstream der Meinungen mitschwimmen. Nicht zuletzt klang Schegulas Satz von der ersten Frau an der Spitze allzu verlockend. Dadurch konnte man sich als besonders aufgeschlossen darstellen. Nach nichts sehnten sich Politiker mehr als danach, für modern gehalten zu werden.
Kurz nach achtzehn Uhr meldeten die Nachrichtenagenturen, dass Lohner zur Nachfolgerin von Stotz gewählt worden war. In den Redaktionen der Zeitungen machten sich die Journalisten daran, Porträts der neuen Bürgermeisterin zu verfassen, während die Fernseh- und Radiosender prominente Politikwissenschaftler um Wortspenden baten.
Gegen zweiundzwanzig Uhr, nachdem sie die wesentlichen Interviewanfragen befriedigt und ihre Visionen für die künftige Wiener Politik verkündet hatte, saß Lohner auf der Terrasse ihrer Villenetage in Döbling. Die Luft war angenehm frisch, im Garten zirpten die Grillen, ansonsten herrschte vollkommene Stille. Vor ihr standen zwei Gläser und eine beinahe geleerte Flasche Champagner.
Marina Lohner lächelte, wie sie lange nicht mehr gelächelt hatte.
»Es ist interessant«, sagte sie, »wie ein einziger Tag alles verändern kann. Am Morgen bist du die einsame Einzelkämpferin, die Außenseiterin, die für Irritationen sorgt und um ihre Zukunft bangen muss. Und am Abend stehst du
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