Maedchenauge
allerdings auch für die Ermittlungen genutzt werden konnte. Jedes andere Verhalten wäre unprofessionell gewesen.
»Dieser Fall entwickelt sich zum Albtraum«, fuhr Belonoz gereizt fort und erweckte den Eindruck, als drohte jeden Moment die Wut aus ihm herauszuexplodieren. »Es ist jedes Mal dasselbe. Ein neues Opfer, also neue Familien und Freunde, die erst mühsam zu halbwegs brauchbaren Aussagen gebracht werden müssen. Was viel Zeit kostet und den Vorsprung des Täters vergrößert. Die Staatsanwaltschaft möchte sich nicht die Finger verbrennen und hält sich nobel zurück. Und die Journalisten wissen zwar nichts, aber alles besser. Also machen sie Stimmung gegen uns. Ein Ende ist nicht absehbar. Ich prophezeie dir, Edi, wenn es so weitergeht, wird die Liste der erstochenen Frauen noch sehr lang werden. Sicher wird auch noch …«
Die Aufzugstür öffnete sich. Der Kabine entstieg in Begleitung zweier uniformierter Polizisten ein Herr Anfang sechzig mit spärlichem weißem Haar und einer goldumrandeten Brille auf der Nase. Eine distinguierte Aura umgab ihn, der sichtlich nicht geneigt war, sich dem Wetter zu ergeben. Zum strahlend weißen Hemd trug er einen sehr eng anliegenden, grauen Leinenanzug mit blauer Krawatte und bordeauxrotem Stecktuch, die cognacbraunen Lederschuhe waren glänzend poliert. Als er Belonoz erblickte, begann er abrupt jovial zu lächeln. Dabei hob er seine Arme, als wollte er ihn gleich umarmen.
»Mein lieber Herr Major, ich begrüße Sie!«, verkündete der Mann mit der aufdringlichen Freundlichkeit eines Politikers auf Wahlkampftour und schüttelte ausgiebig Belonoz’ Hand. »Sicher sind Sie überrascht, dass Sie mich hier sehen. Nur, im Moment geht es halt nicht anders …«
Belonoz blickte entgeistert in Steffeks Richtung.
Der Herr im Maßanzug war Oberstaatsanwalt Otto Maria Lenz und seit Jahren auf keinem Tatort mehr gesichtet worden. Belonoz nahm Lenz deshalb nicht ernst. Für ihn war der Oberstaatsanwalt nichts weiter als ein aalglatter Bürokrat, der den Kontakt zur ermittlerischen Realität komplett eingebüßt hatte.
»Genau, ich bin überrascht«, sagte Belonoz ausdruckslos, und seine kalten Augen fixierten nun den Oberstaatsanwalt. »Was suchen Sie hier?«
Unverfroren weiter lächelnd tat Lenz so, als hätte er den Affront in Belonoz’ Frage nicht gehört. »Eine Folge der Personalknappheit. Sie wissen, der Staat muss sparen … natürlich immer an den problematischen Stellen. Also habe ich mir gedacht, dass ich jetzt einmal persönlich nach dem Rechten schaue … wobei ich überzeugt bin, dass Sie hier ohnehin alles im Griff haben, Herr Major.«
Für die Neigung, sich hinter höflichen Floskeln zu verschanzen, war der Oberstaatsanwalt berüchtigt. Belonoz ließ sich davon nicht irritieren. »Eigentlich würde mich interessieren, warum Staatsanwalt Seiler nicht mehr an dem Fall dran ist.«
Lenz wand sich. »Ah, Sie haben schon davon gehört, das ist wirklich sehr interessant … Sie sind natürlich über die Pratorama -Affäre im Bilde, nicht wahr, Herr Major?«
Belonoz beantwortete die überflüssige Frage des Oberstaatsanwalts mit einem nachlässigen Nicken. Ihm schwante, worauf Lenz hinauswollte.
Was Lenz verharmlosend als Affäre bezeichnete, galt in der Öffentlichkeit längst als Skandal. Unter dem Projektnamen Pratorama wurde in der nördlichen Peripherie Wiens ein aufwendiger Vergnügungspark geplant, mit dem vor allem zusätzliche Touristen angezogen werden sollten. Bürgermeister Berti Stotz persönlich wurde als Ideengeber betrachtet. Allerdings hatten sich kundige Personen bereits vor der öffentlichen Bekanntgabe des Projekts die entscheidenden Grundstücke gesichert. Deren Preise waren, wie energische Oppositionspolitiker herausgefunden hatten, in der Folge in absurde Höhen geklettert. Außerdem hatte eine Baufirma Bestellungen für Material und Fahrzeuge getätigt sowie Personal angeheuert, bevor noch irgendein Auftrag vergeben worden war. Seitdem ergingen sich die Medien in wildesten Spekulationen, welche prominenten Unternehmer und Politiker durch Pratorama zu Fall kommen würden.
»Deshalb habe ich mir überlegt«, dozierte Lenz unermüdlich lächelnd, »dass man Staatsanwalt Seiler jetzt unbedingt entlasten muss. Und Ihr Fall, Herr Major, hat ja leider auch an Dringlichkeit zugenommen. Also ist es das Beste, wenn sich jemand ausschließlich um … also diese Todesfälle kümmert. Das ist ja durchaus in Ihrem Interesse, nicht wahr, Herr
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