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Maedchenauge

Maedchenauge

Titel: Maedchenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian David
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freies Taxi vorbeifuhr, winkte Belonoz und warf den Zigarillo weg. Er schwang sich auf die Rückbank, gab das Ziel an und begann zu überlegen, was er von Doktor Lily Horn zu erwarten hatte.

Montag, 14. Juni
6
    Es fühlte sich an, als sei es sieben Uhr früh.
    Das Gefühl trog. Tatsächlich war es beinahe eine Stunde früher, als Lily Horn erwachte. Der Blick auf den Radiowecker war ernüchternd. Sie hatte den Tag um sieben Uhr dreißig beginnen und im Bewusstsein aufstehen wollen, ausreichend geschlafen zu haben.
    Sie zog das dünne Leintuch über ihren Kopf und versuchte, sich auf das Wiedereinschlafen zu konzentrieren. Es blieben anderthalb Stunden.
    Hatte sie eigentlich den Wecker richtig gestellt oder war sie gestern schon viel zu müde gewesen? Was hatte sie gestern Abend noch getan? Die Erinnerung an Albines nächtlichen Anruf tauchte schemenhaft auf.
    Widerwillig robbte Lily in eine Position, von der aus sie den Wecker kontrollieren konnte. Alles stimmte. Seufzend vergrub sie ihr Gesicht im Polster.
    Sie spürte das Pochen ihres Herzens.
    Lily legte sich auf die andere Seite, verkrallte sich in ihrem Bett, bohrte sich in die Matratze, wollte sich verbergen vor dem anbrechenden Tag. Eine sinnlose halbe Stunde verging, bis sie endgültig aufgab und aus dem Bett stieg.
    Sie zog die Jalousien auf und öffnete die Fenster. Albine schlief ganz sicher noch. Vielleicht sogar gerade erst.
    Im Wohnzimmer rollte Lily die Yoga-Matte aus, machte den Sonnengruß und ein paar Dehnungsübungen. Was den Körper erfrischte, nur der Geist, dieser eigenwillige Motor, wollte nicht so recht anspringen.
    Zum Frühstück gab es Joghurt, eine Banane und mehrere Tassen ungesüßten schwarzen Tees. Danach duschte sie ausgiebig, und während sie ihre Haare mit dem Handtuch abtrocknete, hörte sie im Radio die Morgennachrichten. Als über den neuen Wiener Frauenmord berichtet wurde, erinnerte sich Lily erneut an das Telefonat mit Albine.
    In hochhackigen Sandalen trat sie eine Dreiviertelstunde später auf den Rooseveltplatz. Dezent war ihr Gesicht geschminkt, die Haare hatte sie straff nach hinten gebunden. Eine elegante Ledertasche baumelte an ihrer Schulter, und zusammen mit der leichten Hose und der Bluse sah Lily aus, als wollte sie den schicksten Frauen von Mailand oder Paris Konkurrenz machen. Weil die Hitze sich erneut der Stadt zu bemächtigen begann, wählte sie ein geruhsames Tempo. Keinesfalls wollte sie verschwitzt im Grauen Haus eintreffen. So nannte der Volksmund das Wiener Landesgericht für Strafsachen, eine festungsähnliche Trutzburg der Justiz.
    Das robuste, an eine Kaserne erinnernde Gebäude war mitten in einem tiefbürgerlichen Wohnviertel errichtet worden, gleichsam als Beweis dafür, dass der Rechtsstaat die Gnade nur in Ausnahmefällen kannte. Es beherbergte Gerichtssäle unterschiedlicher Größen, Büros für Richter und Staatsanwälte, sowie ein Gefängnis. Früher hatte das aus dem späten 19. Jahrhundert stammende Graue Haus tatsächlich einen Abgrund an Verschlossenheit und Verkommenheit dargestellt. Damit war es längst vorbei. Nun war alles sauber und hell. Der einst für seine feuchte, schmutzige Enge berüchtigte Gefangenentrakt war durch einen modernen Zweckbau ersetzt worden, den man in die alten Gemäuer eingefügt hatte.
    Als Lily das Graue Haus erblickte, empfand sie zu ihrer eigenen Überraschung gar nichts. Es war, als ginge der unterbrochene Song weiter, weil die Play-Taste wieder gedrückt worden war. Was dazwischen gewesen war, spielte keine Rolle mehr.
    Sie sah das massive, flaschengrüne Tor, davor zahlreiche Menschen, die kamen und gingen oder einfach herumstanden. Rechts neben dem Eingang meldete ein schlichtes Schild mit schwarzen Lettern auf weißem Grund: Staatsanwaltschaft Wien .
    Lily setzte rasch ihre große, dunkle Sonnenbrille auf. Sie wollte von keinem Kollegen erkannt werden. Und falls doch, konnte sie vorgeben, ihn oder sie zu übersehen.
    Sie durchschritt das Tor, zeigte ihren Dienstausweis und ging an den Sicherheitskontrollen vorbei zum Aufzug. Von jetzt an gehörte Lily Horn wieder dazu. Als hätte die New Yorker Episode nie stattgefunden. Das angebliche wahre Leben hatte sie erneut in seinen Fängen.
    *
    Die Klimaanlage rauschte, das permanente Ticken konnte sie aber nicht übertönen. Im Halbdunkel herabgelassener Jalousien thronte Oberstaatsanwalt Lenz an seinem Schreibtisch und studierte eingelangte E-Mails.
    Als es klopfte, rief er »Ja!« und Lily Horn trat

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