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Maedchenauge

Maedchenauge

Titel: Maedchenauge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian David
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ein.
    Lenz warf einen kühl prüfenden Blick auf sie, dann lächelte er plötzlich. Er erhob sich und streckte ihr seine Hand entgegen. »Ich freue mich, dass Sie wieder da sind, Frau Doktor Horn.«
    »Guten Morgen, Herr Oberstaatsanwalt«, sagte Lily höflich und nahm auf dem gepolsterten Sessel Platz, den ihr Lenz mit einer eleganten Handbewegung zugewiesen hatte.
    Mit raschen Blicken musterte Lily den Raum. Alles war genau so wie bei ihrem letzten Besuch im vergangenen Dezember, angefangen bei den luxuriösen Möbeln. Die Wände waren leer, dafür machten silbergerahmte Fotos den Mangel an Bildern wett. Sie waren auf einer Fensterbank versammelt und zeigten den Oberstaatsanwalt mit Politikern, Medienleuten sowie einem verstorbenen Papst. Für die Geräuschkulisse sorgten Exemplare aus Lenz’ Sammlung alter Uhren. Sie standen auf Tischchen und Regalen, hemmungslos tickend.
    Wie schon vorgestern, bei ihrer Rückkehr an den Rooseveltplatz, beschlich Lily der Verdacht, die Zeit sei nicht bloß stehengeblieben, sondern geradewegs zurückgedreht worden. Das Geräusch der tickenden Uhren wirkte wie ein Hohn des Schicksals.
    »Ich hoffe, Frau Doktor, dass Sie die Zeit ihrer Karenzierung angenehm verbracht haben«, sagte Lenz. »Aber es ist gut, dass Sie die Wiener Staatsanwaltschaft wieder verstärken. Offen gesagt, Sie haben enorm gefehlt.«
    Die Floskel Offen gesagt und der amikale Tonfall erschienen Lily eigenartig. Lenz galt als gewiefter Taktiker mit besten Kontakten zu maßgeblichen gesellschaftlichen Kreisen. Stets hatte er es verstanden, sich beliebt zu machen, vor allem im Justizministerium. Keinesfalls war er dafür bekannt, irgendetwas offen zu sagen. Stattdessen bevorzugte er allgemeines, joviales Palavern, um sich nicht allzu genau festlegen zu müssen.
    »Wie Sie wissen, Frau Kollegin«, fuhr Lenz fort, »ist die Arbeitsbelastung bei uns nicht geringer geworden. Übrigens habe ich mich vorgestern bei einem Charity-Golfturnier in der Nähe von Baden mit der Justizministerin darüber unterhalten.«
    Die Justizministerin gehörte derselben Partei an wie Lenz. Zu ihr besaß der Oberstaatsanwalt einen bekannt guten Draht. Außerdem liebte es Lenz, seine Anwesenheit bei gesellschaftlichen Ereignissen mit demonstrativer Beiläufigkeit zu erwähnen.
    »Und zufällig«, sagte Lenz, »kam die Rede auf Sie, Frau Kollegin. Stellen Sie sich das vor!«
    Lily wusste nicht, was sie dazu äußern sollte. In ihrer Verzweiflung schnitt sie eine Grimasse, die mit weit geöffneten Augen und hochgezogenen Augenbrauen Überraschung demonstrieren sollte. Doch das war egal, denn Lenz interessierte sich gar nicht für ihre Reaktion auf seine Worte, sondern redete ohnehin gleich weiter. »Wir waren beide der Ansicht, dass wir Sie in der jetzigen Lage gut brauchen können. Sie haben vielleicht die Diskussionen der letzten Wochen verfolgen können?«
    »Natürlich«, erwiderte Lily im Brustton der Überzeugung, obwohl ihr schleierhaft war, worauf Lenz anspielte. Sie wollte das Gespräch rasch hinter sich bringen. Dass sie erst vorgestern aus New York zurückgekehrt war, ging Lenz nichts an.
    »Ich muss Ihnen also nichts erklären«, sagte Lenz, um es dann doch zu tun. »Es gibt ein bisschen … nennen wir es Unruhe. Manche Beobachter sind der Ansicht, dass die Kriminalität hier in Wien derzeit besondere Blüten treibt. Dass etwas mehr dagegen unternommen werden sollte. Und die Medien … Sie wissen ja, was die Journalisten so alles berichten, wenn der Tag lang ist, Frau Kollegin. Manches davon stimmt, anderes … eher nicht.«
    Lenz redete weiter herum, doch Lily fiel die Glosse in Clip24 ein, die sie nach ihrer Ankunft überflogen hatte. Ihr schwante, worauf der Oberstaatsanwalt anspielte.
    »Die Justizministerin hat Sie in besonders guter Erinnerung durch den Fall Salusek.«
    Lily sagte »Aha« und zwang sich zu einem interessierten Gesichtsausdruck.
    Die Sache lag ein Jahr zurück. Die Ministerin, eine ehemalige Notarin, hatte damals noch als einfache Parlamentsabgeordnete gearbeitet. Der Fall Salusek war von ihr dazu benutzt worden, in Zeitungskommentaren auf eine Verschärfung des Strafvollzugs zu drängen.
    Erwin Salusek, ein dreifacher Prostituiertenmörder, hatte zehn Jahre im Gefängnis verbüßt. Durch die Fürsprache des Gefängnisseelsorgers war ihm der Besuch bei seiner bettlägerigen Mutter gestattet worden. In der ebenerdig gelegenen Wohnung hatte er darum gebeten, die Toilette benutzen zu dürfen. Die ihn begleitenden

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