Maedchenauge
würde wie gewohnt weitergehen. Aber Herr und Frau Karner würden allein sein und das von nun an auch bleiben, für den Rest ihrer Tage.
Der Zusammenbruch der Eltern war ein totaler. Wie festgefroren saßen die drei Menschen im Wohnzimmer, Änderungen gab es lediglich in der Mimik und Gestik. Bleierne Hoffnungslosigkeit breitete sich aus. Descho wünschte sich weit weg, vor allem wegen dieser entsetzlichen Stille, die sich breitmachte. Wenn da wenigstens Wut oder Verzweiflung gewesen wäre, hätte Descho es vielleicht besser aushalten können. Aber das Ehepaar zeigte keine Emotion, als wären sie es gewohnt, alles sofort runterzuschlucken, was ihnen das Schicksal auftischte. Es schien Descho, als wären die beiden vor ihm bei lebendigem Leib gestorben.
Gleichwohl wusste er, dass nun die Teufel des Zweifels am Werk waren. Mit verlockender Süße flüsterten sie dem Ehepaar Karner ins Ohr, das alles einfach nicht zu glauben. Stattdessen sollten sie eine Verwechslung in Erwägung ziehen, die sich garantiert in jedem Moment aufklären würde. Wenn nicht überhaupt gleich an einen ausgeklügelten, sehr bösen Scherz denken, den man ihnen spielte, und in den seriös wirkende Darsteller eingebunden waren. Und selbst wenn dieser Descho ein echter Polizist und seine Aufgabe ernsthaft seien, gelte es dennoch, so raunten die Teufel, sich gegen diese Zumutung des Schicksals zu wehren. Die wirklich schrecklichen Sachen passierten doch lediglich denjenigen, die den Mut verloren und deshalb eine Bestrafung regelrecht heraufbeschworen.
Descho ging davon aus, dass sich die Karners jetzt innerlich aufbäumten. Auch wenn sie es sich nicht anmerken ließen, weil sie offenbar gelernt hatten, Gefühle zu verbergen. Erst viel später würden sie zu Boden fallen und umso härter aufschlagen, je mehr Einfluss sie den Teufeln des Zweifels gewährt hatten. Zugleich war Descho dazu verpflichtet, diese wertvollen ersten Momente nicht zu vergeuden. So stellte er Frage um Frage. Seine Beharrlichkeit führte dazu, dass Herr und Frau Karner vorübergehend wieder zu angemessen menschlichen Reaktionen fähig wurden. Wie um sich selbst zu betäuben, sprachen sie immer mehr, gaben bereitwillig Auskunft zu allem, wonach sich Descho erkundigte, und fielen einander manchmal sogar ins Wort.
Er machte sich Notizen, während er konzentriert das Ehepaar Karner beobachtete und sich das Verhalten der beiden genau einzuprägen versuchte. Später würde man daraus eventuell wichtige Schlüsse ziehen können. Und irgendwann sollte sich vielleicht auch eine Erklärung dafür finden, warum Herrn Karners Atem dermaßen intensiv nach Alkohol roch.
*
Kurz vor dreiundzwanzig Uhr summte das Handy. Das Display beleuchtete einen Teil des stockdunklen Vorzimmers. Lily wurde darauf aufmerksam, als sie aus dem Bad kam.
»Ich wollte dir noch rasch alles Gute für morgen wünschen«, meldete sich Albine.
Im geräuschvollen Hintergrund vernahm Lily aufgeweckt plaudernde Stimmen.
»Wie lieb von dir«, sagte sie. »Wo bist du gerade?«
»Vor einem Club im vierten Bezirk. Hörst du die anderen Leute?«
»Natürlich«, antwortete Lily. »Da scheint ja einiges los zu sein so spät am Sonntagabend.«
Sie hatte alle Lichter in ihrer Wohnung gelöscht und die elektrisch betriebenen Geräte ausgeschaltet. Lily benötigte dieses Ritual, um dem Körper und der Seele zu signalisieren, dass es an der Zeit war, den Schlaf zu beginnen.
Albines Anruf verband Lily mit einer Welt, die einem anderen Rhythmus gehorchte. Während Lily ihrem ersten Arbeitstag nach ihrer langen Pause entgegensah und sich nach Schlaf sehnte, schwamm Albine in der nächtlichen Wiener Partyszene. Manchmal hatte Lily selbstkritisch überlegt, ob sie in ihrem tiefsten Inneren eifersüchtig auf Albines Lebensstil war. Zu einer Antwort hatte sie nie gefunden. Oder nie finden wollen. Weil sie schon oft genug der Zeit jugendlicher Unbeschwertheit nachhing, die selten zwischen Dürfen und Müssen unterschied, sondern vorrangig zwischen Können und Nicht-Können. Aber auf keinen Fall zwischen Tag und Nacht.
»Ich muss hier sein, weil mein Sender das will«, sagte Albine betont abgeklärt, als hätte sie Lilys Gedanken erraten. »Aber heute habe ich überhaupt keine Lust. Lieber wäre ich jetzt bei dir, um dich für morgen in Form zu bringen.«
»Na ja, in irgendeiner Form werde ich sicher sein … Fragt sich nur, in welcher.«
Auf der Stelle verkündete Albine im Tonfall absoluter Entschiedenheit: »Alles wird
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