Maedchenauge
Tausende Unterlagen eingelesen hat und alle erforderlichen Kontakte besitzt, muss Seiler natürlich weiter den Fall Pratorama bearbeiten. Somit ergibt sich die Frage, was wir mit den Frauenmorden machen. In diesem Zusammenhang habe ich an Sie gedacht.«
Es fiel Lily schwer, ruhig zu bleiben. Vieles hätte sie am ersten Tag ihres Comebacks erwartet, nur das nicht.
»Also ich soll das machen?«, fragte Lily in die mittlerweile entstandene Stille hinein, weil ihr gerade nichts anderes einfiel.
Gewiss war Lenz’ Vorschlag ehrenvoll. Zugleich hatte der Oberstaatsanwalt signalisiert, dass er Lilys Idee ablehnte, sich der Wirtschaftskriminalität zu widmen. Vielleicht, weil er ihr dies schlicht nicht zutraute, sondern sie lieber auf Bewährtes ansetzte. Lily hatte Salusek aufgespürt, nun sollte sie den nächsten Mörder einfangen.
»Sie hätten dabei alle Unterstützung, die Sie verlangen. Und Ihre Erfahrungen mit Salusek sprechen eindeutig für Sie. Die Frage ist also nur, ob Sie sich das zutrauen.«
Wie immer hatte Lenz seine Worte klug gewählt. Und aus dem Angebot eine Herausforderung gemacht.
»Ich brauche Ihre Entscheidung innerhalb einer Stunde«, sagte Lenz mit gespielter Nonchalance. »Sonst muss ich jemand anderen damit beauftragen. Es ist leider extrem dringend.«
Schlagartig hatte Lenz jene geschäftsmäßige Kühle wiedererlangt, die ihn sonst auszeichnete. Das ironische Spiel, das er gerade eben mit Lily getrieben hatte, war vorbei. Alles Nötige war gesagt, es ging nur noch um Details.
Lily dachte kurz und intensiv nach. Vor allem suchte sie fieberhaft nach Antworten. Etwa auf die Frage, weshalb man eigentlich ausgerechnet ihr, einer dermaßen jungen Staatsanwältin, diese brisante Ermittlung zuschanzen wollte. Warum war nicht ein älterer Kollege mit mehr Erfahrung herangezogen worden? Lag es daran, dass sie eine Frau war? Oder hatten bereits andere das Angebot abgelehnt, weil sie sich den Fall nicht zumuten wollten?
Fest stand für Lily lediglich, dass sie unter genauer Beobachtung der Medien und nicht zuletzt auch der Politik stehen würde. Jeder Schritt würde kommentiert und kritisiert werden. Von eventuellen Fehlern oder Irrtümern ganz zu schweigen. War der Fall es wert, diesen Preis zu zahlen?
Einen Vorteil gab es zweifellos. Sie würde sich in umfangreiche Arbeit stürzen können, um sich abzulenken. Genau das hatte sie sich gewünscht, um New York zu vergessen. Dort hatte sich Lily als der einsamste Mensch der Welt empfunden. Jetzt bot sich die Chance, die Einsamkeit radikal zu beenden.
»Ich habe meine Entscheidung bereits getroffen«, sagte sie gelassen. »Ich möchte herausfinden, wer der Täter ist. Sie können mir die Frauenmorde zuteilen.«
Lenz sah Lily ungewohnt durchdringend an. Für einen Moment hätte man den Eindruck haben können, als husche ein Hauch von Wohlwollen über sein Antlitz. Doch schon den Bruchteil einer Sekunde später gewann die emotionslose Routine Oberhand.
»Perfekt. Ich bin glücklich, dass Sie den Fall übernehmen. Setzen Sie sich bitte mit dem Kollegen Seiler in Verbindung, damit er Ihnen das diesbezügliche Material übergibt.«
So zuvorkommend Lenz bisher gewesen war, so offenkundig war nun sein plötzlich ausbrechendes Desinteresse. Er verhielt sich wie ein Politiker, der bei einem Bad in der Menge einem Bürger die Hand schüttelte und dabei schon den nächsten anlächelte.
Lily verabschiedete sich eilig.
Lenz wartete, bis sich die Schritte entfernt hatten. Dann fischte er das Handy aus einer Lade seines Schreibtisches und wählte eine Nummer.
»Lily Horn macht es«, sprach Lenz auf die Mobilbox. »Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Vormittag, Herr Bürgermeister.«
Er widmete sich wieder seinen E-Mails. Zehn Minuten später fiel ihm etwas ein, er blickte auf die Uhr und ließ sich von seiner Sekretärin mit der Justizministerin verbinden. Nach dem wortreichen Austausch höflicher Floskeln kündigte er an, Staatsanwalt Seiler von der Mordserie abzuziehen und die Ermittlungen an Frau Doktor Lily Horn zu übergeben. Ob sie damit einverstanden sei? Die Justizministerin war es. So wie diese gebildete und nicht unsympathische, doch insgesamt ziemlich naive Frau immer schon mit jedem Vorschlag einverstanden gewesen war, den Lenz ihr jemals unterbreitet hatte.
*
Descho arbeitete wie ein Automat. Persönliche Gefühle und Gedanken blendete er einfach aus, soweit es möglich war.
Die vergangene Nacht hatte er durchmachen müssen. Zuvor hatte
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