Maedchenauge
Staatsanwalt war dort? Und warum hat man ihm dann nicht den Fall übertragen, sondern mir?«
»Lenz.«
»Was meinst du?«
»Oberstaatsanwalt Lenz. Am Freitag hat er mir mitgeteilt, dass ich wegen der Pratorama -Affäre von den Mädchenmorden befreit werde. Und dann war er es selbst, der am späten Sonntagnachmittag am Tatort aufgekreuzt ist. Echt witzig, ich glaube, er war schon mehr als zehn Jahre an keinem anderen Tatort mehr als in seinem eigenen Büro.«
Oliver Seiler lachte amüsiert über diese Vorstellung und nahm einen Schluck Kaffee.
»Willst du mir irgendetwas über den Fall erzählen?«, fragte Lily.
»Was du wissen musst, steht in den Akten«, erwiderte er und deutete mit der Hand, in der er die Kaffeetasse hielt, auf die zu einem unordentlichen Stoß gestapelten Unterlagen. »Ich kann dir die Lektüre leider nicht ersparen. Du wirst ohnehin erkennen, dass wir noch recht wenig wissen. Optimistisch ausgedrückt. Eigentlich wissen wir fast gar nichts. Das Glas ist nicht halbvoll, sondern nicht einmal halbleer.«
»Schade. Irgendwie hatte ich gehofft, du könntest mir einen Hinweis geben. Oder irgendein Gefühl mitteilen, eine Ahnung. Oder einen Verdacht, auch wenn der noch überhaupt nicht rational begründet ist.«
»Nein, zu meinem größten Bedauern gibt es da gar nichts«, sagte Seiler mit einem äußerst charmanten Gesichtsausdruck, als müsste er amouröse Avancen enttäuschen. »Wir tappen im sprichwörtlichen Dunkeln. Keine Beziehung zwischen den Opfern, keinerlei Hinweise auf Leute, die auch nur ansatzweise verdächtig wären. Nichts. Und das in einer Situation, wo die Panik über Wien schwappt und es in der Stadt kein anderes Gesprächsthema zu geben scheint als den Mädchenmörder. Die ganze Stadt wird mittlerweile von diesem geistesgestörten Phantom beherrscht.«
»Wenn er überhaupt gestört ist. Vielleicht ist er geistig völlig normal.«
»Möglich, aber nicht einmal das wissen wir. Schon gar nicht, ob es überhaupt ein Mann ist. Das ist ja das Gefährliche.«
»Das Gefährliche ?«
»Sicher. Denn natürlich darf ich nicht öffentlich verlautbaren, dass die Ermittlungsbehörden wenig oder gar nichts wissen. Und ab jetzt bist du es, die das für sich behalten muss.«
»Verhindert man auf diese Weise nicht, dass mehr Hinweise aus der Bevölkerung kommen?«
»Möglicherweise. Aber das interessiert die Politiker doch nicht. Die wollen nur Ruhe. Die Bevölkerung soll glauben, dass die Sache in guten Händen ist und der Täter demnächst gefasst wird.«
»Wieso das?«
»Diskussionen über die Sicherheit in Wien sind nicht erwünscht. Es gibt Druck aus dem Rathaus. Und neuerdings auch vom Innenminister. Ich habe ihn gespürt. Und du wirst ihn auch noch ertragen müssen.«
»Schöne Aussichten«, sagte Lily, atmete tief ein und schüttelte widerwillig den Kopf.
»Bereust du schon, den Fall übernommen zu haben?«, fragte Seiler.
Lily zögerte einen Moment. Mit dem Instinkt des geübten Jägers hatte Seiler einen wunden Punkt getroffen. Gewiss hatte sie die Absicht gehegt, sich in Arbeit zu vergraben. Doch diese Morde an jungen Frauen, mit denen sie so jäh nach ihrer gedankenverlorenen Rückkehr nach Wien konfrontiert worden war, erzeugten eine Eiseskälte, die Lily intuitiv frösteln ließ. Dennoch verkündete sie sehr entschlossen und mit fester Stimme: »Nein, überhaupt nicht. Wenn es Schwierigkeiten gibt, werde ich mit ihnen fertigwerden.«
»Exzellente Einstellung. Ich geb dir doch noch einen Tipp: Sprich mit Belonoz, so schnell du kannst. Er hat ein Gespür für Dinge. Seine Intuition ist unbezahlbar. Belonoz wird dir weiterhelfen. Er weiß alles.«
Lily blickte ihn groß an.
»Belonoz?«
»Ja, natürlich. Mit ihm kannst du erfolgreich sein. Bis dahin aber wird Wien von diesem Phantom regiert und …«
Lily unterbrach ihn. »Aber wer ist dieser Belonoz?«
Seilers Mund verzog sich zwar zu einem leicht spöttischen Lächeln, doch in seine Augen trat ein ungewohnt ernster Ausdruck.
»Das ist typisch für dich, Lily«, sagte er. »Du hast gerade erst begonnen und schon ein entscheidendes Problem erkannt.«
Wochen später würde Lily sich immer noch fragen, ob ihr Instinkt nicht in diesem Augenblick hätte Alarm schlagen müssen.
*
An diesem Morgen hatte sich der Radiowecker pünktlich um sieben Uhr eingeschaltet. Mit dröhnender Lautstärke hatte er binnen einer halben Minute Vizebürgermeisterin Marina Lohner aus dem Schlaf geholt. Sie war aus dem zerwühlten Bett
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