Maedchenauge
Computerausdrucke, Statistiken, Fotos, Listen und andere Materialien lagen teils auf Stapeln, teils einzeln verstreut herum. Ein dermaßen heilloses Chaos schien hier zu herrschen, dass Lily sich beim Betreten des Raums gewundert hatte, wie sich hier irgendjemand auch nur ansatzweise zurechtfinden konnte. Nur mühsam hatte sie sich eines Kommentars enthalten. Nicht bloß, weil für sie selbst Ordnung absolute Priorität besaß und jegliche Unordnung sie irritierte. Sondern weil sie verblüfft war.
Erneut befand sie sich in einem ihr vertrauten Raum. Diesmal jedoch in einem, der seinen Charakter komplett verändert hatte. Gewiss war Oliver Seiler nie ein Ordnungsfanatiker gewesen. Sein Büro hatte immer einen leichten Anflug von Boheme versprüht. Aber wie sehr hier jetzt das Chaos Einzug gehalten hatte, erstaunte Lily doch. Offenbar war es allerhöchste Zeit, ihren Kollegen zu entlasten.
»Du willst den Fall wirklich übernehmen?«, fragte Oliver und fixierte sie mit seinen braunen Augen. »Was du dir damit einhandelst, weißt du?«
»Irgendjemand muss es tun«, erwiderte Lily, »und mir wurde gesagt, dass du mit der Pratorama -Sache schwer beschäftigt bist.«
Sie sah ihn an und spürte unwillig, wie ihr Inneres auf ihn reagierte. Oliver Seiler wurde von der gesamten Wiener Juristenszene als ausnehmend attraktiver Mann betrachtet. Vielen Frauen galt er als Ehemann-taugliches Material, vor allem seitdem seine letzte Beziehung zerbrochen war. Gescheitert war sie, so wurde mit Schadenfreude gemunkelt, an seiner Arbeitswut und seinem Ehrgeiz. Viele bewunderten ihn und schmeichelten ihm. Andere jedoch beneideten und feindeten ihn an, vor allem ältere, verheiratete Männer.
Für Lily war Oliver Seiler zu perfekt, zu schön, zu gepflegt. Er schien ihr jemand zu sein, dem bewusst war, wie stark sein Erscheinungsbild auf andere Menschen wirkte, und der das gezielt einsetzte. Und das missfiel ihr. Menschen, die auch im privaten Bereich Strategien verfolgten, wich sie konsequent aus.
Dennoch empfand sie etwas Unbestimmbares für ihn. Wenn ihre Blicke einander trafen, spürte sie eine Verbundenheit mit ihm. Natürlich fand sie ihn auch attraktiv. Unterschwellig neigte sie zu der Ansicht, Seiler versuche mit seiner äußerlichen Erscheinung eine innere Schwäche wettzumachen. Gerade das war der Grund, weshalb er auf sie, trotz ihres Unwillens, eine nicht zu leugnende Anziehungskraft ausübte.
»Stimmt, irgendjemand muss das erledigen«, sagte Seiler. »Und Pratorama ist eine harte Nuss, auch wenn ich schon ganz gut gelernt habe, durch diesen Sumpf zu waten und nicht unterzugehen. Es freut mich übrigens, dass ausgerechnet du mir die Mädchenmorde abnimmst.«
»Ach, komm!«
»Nein, mich freut das wirklich.«
»Warum denn bitte das?«
»Weil du hier in der Staatsanwaltschaft eine der Fähigsten bist. Aber das muss ich dir nicht sagen. Dass du den Fall Salusek großartig gemeistert hast, wissen alle. Und bei den Mädchenmorden ist es sicher nicht schlecht, wenn eine Frau die Untersuchung führt. Das bringt einen neuen Blick auf die Sache. Eine gewisse … sagen wir: Sensibilität. Das könnte dazu beitragen, das Rätsel aufzuklären. Vielleicht rascher, als ein Mann das schaffen würde.«
Lily fiel auf, wie ungebrochen positiv sich Seiler meistens äußerte. Möglicherweise war es das, was sie an ihm mochte. Sie neigte zu Selbstzweifeln. Lediglich Albine gelang es manchmal, ihr solche Tendenzen vorübergehend auszutreiben.
»Wer waren diese Frauen, die sterben mussten?«, fragte Lily. »Was hat sie zu Opfern werden lassen?«
»Das waren ganz normale Mädchen. Sie haben unbekümmert vor sich hin gelebt, studiert, Partys gefeiert, das Leben genossen. Das Übliche eben. So wie wir früher auch.«
Ohne dass sie den Grund dafür hätte angeben können, hatte Seilers letzte Bemerkung Lilys Herz einen kleinen Stich versetzt. Sie fragte rasch: »Alle drei hatten einen derartigen Lebenswandel?«
»So ungefähr. Moment, bevor ich etwas Falsches sage … Also die ersten zwei waren auf jeden Fall so. Aber über das dritte Opfer weiß ich natürlich nichts.«
»Du warst doch am Tatort. Hast du da nicht …?«
»Nein, da irrst du dich«, unterbrach Seiler freundlich, aber entschieden. »Ich war nicht dort.«
»Man benötigt aber die Anwesenheit eines Staatsanwalts vor Ort, wenn die Polizei …«
»Es war ja auch ein Staatsanwalt dort.«
Seilers Tonfall war belustigt, deshalb blickte Lily ihn überrascht an. »Ein
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