Maedchenauge
angezogen. Einen weißen Hosenanzug und eine Hornbrille, von der niemand wusste, ob sie irgendeinem praktischen Nutzen diente.
»Und den Lesern wird es erst recht nicht genügen. Die wollen die kleinsten Details wissen. Das Unwichtigste. Das Intimste.«
Sie warf einen gefährlich gelangweilten Blick in die Redaktionskonferenz, wie auf der Suche nach dem geeigneten Sündenbock für die mageren Rechercheergebnisse.
»Zwei Aspekte hat die Geschichte«, stellte Sasha Bonino fest und nahm die Brille ab, »die Opfer und die Ermittler. Über die Opfer wissen wir einiges, nur haben das unsere Mitbewerber auch schon recherchiert. Dass also niemand von Ihnen auf die Idee gekommen ist, diesen Polizisten Belonoz näher zu beleuchten, finde ich erstaunlich. Und noch mehr überrascht mich die totale Fehlanzeige, was die neue Staatsanwältin betrifft, diese Frau …«
Unwillkürlich gab sie sich eine Blöße, als ihr der Name nicht sofort einfiel. Anstatt den Moment auszukosten, soufflierte ein junger Praktikant eilfertig: »Lily Horn!« Seine Kollegen rührten sich nicht, am liebsten hätten sie ihn jedoch sofort erschlagen.
»Ja, richtig. Lily Horn. Ich erwarte mir also, dass Sie der Arbeit nachgehen, für die Sie bezahlt werden. Diese Frau Horn wird noch eine wichtige Rolle spielen. Wenn sie den Mörder fasst, machen wir sie zur Heldin. Zur Österreicherin des Jahres oder so ähnlich. Und wenn sie versagt, dann … na eben das Gegenteil. Das Paradebeispiel für unfähige Staatsdiener, die es nicht schaffen, gefährliche Verbrecher hinter Schloss und Riegel zu bringen, während unsere Kinder in Angst leben.«
Da klang Sasha Bonino bereits, als wollte sie sich für einen weiteren Leitartikel zu ihrem Lieblingsthema aufwärmen.
»Wie immer es kommt, für uns ist es eine Win-win-Situation. Allerdings nur, wenn für meine Zeitung fähige Reporter tätig sind.«
Wie stets mied Sasha Bonino die Bezeichnung Journalisten , so wie von ihr auch nur selten der Begriff Journalismus verwendet wurde.
»Wir haben keinen wirklich lückenlosen Lebenslauf des Herrn Belonoz und auch keine Informationen über sein Privatleben. Nur das Übliche, also dass er schwierig, eingebildet, unhöflich und so weiter ist. Wir brauchen Aussagen von Ex-Mitarbeitern, wie es ist, mit ihm zusammenzuarbeiten. Und über Lily Horn wissen wir noch weniger, nämlich gar nichts. Woher kommt sie? In welchen Kreisen bewegt sie sich? Wie sieht sie aus? Es gibt ein einziges Foto, und das ist zwei Jahre alt. Außerdem interessiert mich, warum sie den Fall übernommen hat. Und warum Oliver Seiler nicht weitermacht, der ja so eine Art Star geworden ist.«
Gerade hatte sich die Tür geöffnet. Eine junge Frau schob sich in den Raum. Sie trug ein blaues T-Shirt und Jeans, war von mittlerer Größe und leicht rundlich. Vorsichtig schloss sie die Tür und wollte sich einen Platz zum Stehen suchen, irgendwo hinten, möglichst unauffällig.
Sasha Bonino hielt inne und starrte in Richtung der Frau, die sich Mühe gab, keine Geräusche zu erzeugen.
»Gut, dass meine Mitarbeiter langsam eintrudeln«, sagte sie emotionslos. »Sie sind doch Gaby Koch?«
Die junge Frau nickte vorsichtig.
»Ja … ganz genau«, sagte sie, nachdem sie sich hatte räuspern müssen.
»Eine Sekunde«, warf Sasha Bonino ein. »Es geht jetzt schon die ganze Zeit um Ihre Arbeit. Sie sollten ja rund um die Morde und die Ermittler recherchieren. Ich finde es einfach unangemessen, dass Sie glauben, hier mit Verspätung hereinspazieren zu können.«
»Ja, das tut mir leid, und ich …«
»Frau Koch, ich frage mich … Ich meine, Sie wissen doch wohl genau, dass diese Redaktionssitzung jetzt stattfindet. Haben Sie es nicht für nötig erachtet, hier pünktlich zu erscheinen?«
Darauf legte Sasha Bonino ungeheuren Wert. Jeder Anschein, irgendjemand würde ihre Anordnungen und Befehle missachten, wurde von ihr unbarmherzig verfolgt.
»Natürlich«, sagte Gaby Koch, »aber etwas ganz Wichtiges ist mir dazwischengekommen, und darum …«
»Aha, etwas Wichtiges . Das finde ich gut, dass sich meine Mitarbeiter auch einmal mit Wichtigem beschäftigen.«
So ruhig Sasha Bonino diese Sätze sprach, so bösartig klangen sie. Im Raum herrschte Stille. Alle saßen oder standen regungslos da, gespannt darauf wartend, was nun geschehen würde.
»Es ist aber«, begann Koch nach erneutem Räuspern, »tatsächlich etwas enorm Wichtiges.«
Sie sammelte all ihre Kraft, auch ihre Stimme beherrschte plötzlich den
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