Maedchengrab
nachdachte. Hatte er ihr aus reiner Bosheit die Wahrheit gesagt? Wäre es besser gewesen, er hätte nichts gesagt? Beinahe hätte er seine eigene Tochter angerufen, nur um für fünf Minuten ihre Stimme zu hören, aber es war schon zu spät.
Fünf Familien, die endlich trauern durften, dafür aber Entsetzliches durchmachten. Fünf Opfer, aus dem Leben gerissen, entkleidet und vergraben. Hob der Mörder Trophäen auf – hatte er ein Lager mit Kleidung, Handtaschen, Handys? Rebus hoffte es. Er wusste, dass Dempsey bei der nächsten Pressekonferenz genau beschreiben würde, welche Gegenstände die Frauen dabeihatten, als sie verschwanden, und um entsprechende Hinweise aus der Bevölkerung bitten würde. Er fragte sich, ob sie verheiratet war – sie trug keinen Ring, aber das hieß heutzutage nichts mehr. Vielleicht hatte sie Kinder. Rebus’ Handy lag auf der Armlehne seines Sessels, und er sah es immer wieder an, fragte sich, ob er vielleicht Siobhan Clarke anrufen sollte, nur um ihr von seinem Abend zu erzählen. Stattdessen drehte er die Platte um, nahm etwas Lautstärke raus und schenkte sich einen letzten Malt ins Glas.
Der Fernseher lief stumm: die Nachrichten. Die A9 war in der Rangfolge der Dringlichkeiten durch eine aktuelle politische Krise in Europa abgelöst worden. Es gab ein neues Interview mit Frank Hammell, aber davon wurde nur eine halbe Minute gezeigt. Er hatte seinen Nachrichtenwert bereits eingebüßt. Als wieder ins Studio zurückgegeben wurde, wurde über der Schulter des Nachrichtensprechers ein Standbild von Hammell an der Absperrung in Edderton gezeigt. Hervorquellende Augen, Speichel in den Mundwinkeln, der Zeigefinger auf die Zuschauer gerichtet, als wolle er jemandem ein Auge ausstechen. Falls jemals ein Verdächtiger gefunden werden sollte und unmittelbar darauf spurlos verschwand, würde Hammell sowohl die Schuld wie auch die Lorbeeren dafür bekommen. Rebus versuchte aus Hammell schlau zu werden. War er so hitzig, weil das seinem Wesen entsprach, oder wollte er lediglich Annettes Mutter beeindrucken? Gefiel es ihm vielleicht einfach, im Fokus der Öffentlichkeit zu stehen? Die anderen Familien hatten sich in Geduld geübt oder sich an ihre Machtlosigkeit gewöhnt. Nicht so Frank Hammell, dabei gehörte er gar nicht zur Familie.
Er gehörte nicht zur Familie.
Er war Annette nachgefahren … Hatte mit ihr gestritten …
Gehörte aber nicht zur Familie.
Rebus dachte darüber nach, während er austrank und sich gegen einen weiteren Whisky entschied. Stattdessen kochte er sich einen Tee und spülte damit zwei Paracetamol hinunter. Danach rief er trotz vorgerückter Stunde Frank Hammell an. Eine weibliche Automatenstimme teilte ihm mit, die Nummer sei nicht vergeben. Er überprüfte sie und versuchte es noch einmal – mit demselben Ergebnis. Dann zog er Darryl Christies Karte aus der Tasche und gab dessen Nummer ein.
»So schnell?«, fragte Christie, der sofort dranging.
»Ich muss mit Hammell sprechen. Ich dachte, ich hätte seine Nummer …«
»Er ändert sie alle paar Wochen – aus Angst, dass ihr ihn abhört. Kann ich irgendwie behilflich sein?«
»Nein.«
» Würden Sie mir sagen, worum’s geht?«
Rebus hörte leise Musik im Hintergrund. Soweit er wusste, wohnte Darryl noch zu Hause. Vielleicht war er in seinem Zimmer. »Ist nicht wichtig«, sagte Rebus.
»Rufen Sie häufig Leute um Mitternacht an, wenn’s nicht wichtig ist?«
Meine Güte, der Junge war auf Zack. »Entschuldigen Sie die Störung«, sagte Rebus und wollte das Gespräch beenden. Aber Christie bat ihn zu warten. Er schien etwas abzuwägen. Rebus hörte Gläserklirren und Husten. Eine Art Bar oder Club, aber voll konnte es nicht sein. Die Musik kam auf jeden Fall vom Band.
»Ist das Jazz?«, fragte Rebus.
»Mögen Sie Jazz?«
»Nicht besonders. Ich würde meinen, dass Sie ungefähr dreißig Jahre zu jung dafür sind.«
»Haben Sie einen Stift?«
»Ja.«
Christie diktierte ihm Hammells neue Nummer, die Rebus hinten auf die Karte schrieb. Anschließend bedankte er sich.
» Wenn Sie mögen, weihe ich Sie in das Geheimnis des Jazz ein«, sagte der junge Mann.
»Na gut.«
»Es geht um Kontrolle …«
Als die Musik verstummte, begriff Rebus, dass Christie aufgelegt hatte.
Er starrte die Nummer auf der Karte an, plötzlich nicht mehr willens, mit Hammell zu sprechen. Er würde noch mal drüber schlafen – nachdem er die Nummer in seinem Handy gespeichert hatte.
In der Flasche waren noch drei
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