Maedchengrab
war er wieder in seinem Wandschrank verschwunden. Im Raum herrschte Stille, alle Blicke richteten sich auf Clarke. Die ihrerseits jedoch Rebus anstarrte. »John«, sagte sie, »kannst du die alten ungeklärten Fälle aufteilen? Wir müssen alle Beteiligten noch einmal befragen. Hat unser Entführer auf der Lauer gelegen, oder kannte er die Frauen? Kann ihn sein Job an die jeweiligen Orte oder zu seinen Opfern geführt haben?«
»Das ist ganz schön viel verlangt«, bremste Rebus sie.
»Aber einen Versuch ist es wert, meinst du nicht?« Sie sah ihn herausfordernd an.
»Absolut«, erwiderte er, und das Team rückte zusammen, um Anweisungen entgegenzunehmen.
Rebus hatte es aufgegeben, die Fälle zu zählen, an denen er gearbeitet hatte, häufig waren sie ebenso komplex gewesen wie dieser, hatten eine Vernehmung nach der nächsten, Aussage um Aussage nötig gemacht. Er dachte an das Material in den Kisten, über dem nun die Kollegen um ihn herum brüteten – Schreibtischarbeit, die belegen sollte, dass man sich anstrengte, die aber wenig Hoffnung auf ein Ergebnis versprach. Ja, er hatte schon Fälle wie diesen erlebt und andere, bei denen er schier verzweifelt war angesichts all der Türen, an die es zu klopfen, und all der ausdruckslosen Mienen, die es zu befragen galt. Aber manchmal tauchten ein Hinweis oder eine Spur auf, zwei Personen meldeten sich und nannten denselben Namen. Die Reihen der Verdächtigen lichteten sich. Alibis und Geschichten hielten nach der dritten oder vierten Schilderung nicht mehr stand. Konnte man den Druck aufrechterhalten, kamen genügend Beweise zusammen, um sie dem Staatsanwalt vorzulegen.
Und dann gab es noch die glücklichen Zufälle – wenn sich einfach etwas ergab und zum Durchbruch führte. Was nichts mit zäher Beharrlichkeit oder raffinierter Kombinationsgabe zu tun hatte: einfach reiner beschissener Zufall. War das Endresultat dadurch weniger verdient? Prinzipiell ja. Möglicherweise hatte er etwas in den Akten übersehen, eine Übereinstimmung oder einen Zusammenhang.
Als er das Team bei der Arbeit beobachtete, war er sich nicht sicher, ob das Auftauchen eines Zusammenhangs in seinem Interesse wäre. Er würde dumm dastehen, faul, wirklichkeitsfremd. Andererseits: Sie brauchten einen Durchbruch, selbst auf Kosten seiner Eitelkeit. Also sah er ihnen zu, wie sie die Köpfe über die Unterlagen beugten, an ihren Stiften kauten, Sachen unterstrichen, sich Notizen machten oder ihre Gedanken in den Computer tippten. Sie stellten die einzelnen Ereignisse in ihrer Abfolge genauer dar, entschieden, wer befragt werden sollte, schlugen Herangehensweisen vor, die bislang vielleicht nicht versucht worden waren – entweder im Rahmen der ursprünglichen Ermittlungen oder von Rebus.
Es wurde weiter an Stiften gekaut. Und noch mehr Notizen geschrieben. Ausflüge zum Wasserkocher und zur Kaffeekanne. Gelegentlich bot jemand an, von unten was zu essen zu holen. Rebus war der Einzige, der Zigarettenpausen machte. Als er gerade wieder draußen stand und rauchte, vergewisserte er sich erst, dass in den Autos auf dem Parkplatz niemand saß, bevor er die Nummer in sein Handy eingab.
»Ich möchte mit Hammell sprechen«, sagte er zu der Person, die sich meldete. »Sagen Sie ihm, es ist Rebus.«
Nach ein paar Sekunden kehrte die Stimme des Mannes an Rebus’ Ohr zurück. »Er kann im Moment nicht sprechen.«
»Sagen Sie ihm, es ist wichtig.«
»Er ruft Sie zurück.«
Und das war das Ende des Telefonats. Rebus starrte das Display an und fluchte leise. Er zündete eine zweite Zigarette an und ging auf dem Parkplatz auf und ab, der beengt zwischen der zweistöckigen Polizeiwache und der Rückwand eines georgianischen Wohnhauses lag. Viele Fenster, keine Spur von Leben. Die Tauben auf den Dächern machten, was sie immer machten. Ein großer, rot gemauerter Schornstein, der zu einem Künstleratelier auf der Union Street gehörte. Ein Flugzeug flog im spitzen Bogen auf den Flughafen zu. Autohupen drang vom Leith Walk herüber, und in der Ferne jaulte ein Martinshorn, das allerdings nicht näher kam.
»Das Leben in all seiner Fülle«, murmelte Rebus, scheinbar an die freundliche Zigarette zwischen seinen Fingern gewandt. Ein paar Minuten später wollte er sie gerade wegschnippen, als sein Handy klingelte. Eine unbekannte Nummer. Er meldete sich mit Namen.
»Haben Sie mir was zu sagen?«, wollte Hammell wissen. Er klang sehr geschäftig; keine Zeit für einen Plausch.
»Thomas Robertson war’s
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