Maengelexemplar
mich gesprochen. Über die psychische Verfassung des gemeinsamen Kindes. Mama war also schon bestens vorbereitet auf mich. Während ich noch dachte, dass wir nur Kaffee trinken.
Ich wäre auch so gern vorbereitet gewesen auf mich.
»Du wohnst ab jetzt erst mal hier«, bestimmt Mama.
»Quatsch«, protestiere ich. Und dass es schon wieder geht.
»Selber Quatsch!«, sagt sie »Du bist jetzt krank, also bleibst du erst mal hier, und morgen gehen wir zu einem Psychiater und hören mal, was der sagt.«
Dann erklärt sie mir einiges über die Natur von Depressionen und dass der erste Schritt ist, sie anzunehmen. Sich nicht zu wehren. Sondern zu akzeptieren, dass man sich, wie eine Erkältung, eine eingefangen hat und dass man die auch wieder loswerden kann. Sie erzählt, wie es ihr nach der Trennung von ihrem Freund ging und dass man manchmal einfach irgendwann nicht mehr kann. Die Kontrolle abgeben muss. Dass der Körper einem gegen das Schienbein tritt, um klarzustellen, dass jetzt mal gut ist. Ich werde traurig von ihren Erzählungen, und ich schäme mich, weil ich gar nicht wusste, wie schlecht es ihr in dieser Zeit wirklich ging, und bekomme zugleich Angst, dass das vielleicht meine Zukunft sein könnte. Mama sagt: »Du hast den Tiefpunkt schon erreicht. Schlimmer kann es nicht mehr werden.« Ich bin beruhigt. Jetzt kümmert sich meine Mama um mich. Meine Mama.
Psychiater, das wird oft verwechselt, sind keine Psychotherapeuten. Also sie können auch psychotherapeutisch behandeln, aber dieser Teil ihrer Profession interessiert mich nicht, eine Psychotherapie mache ich ja schon bei Anette. Psychiater sind Fachärzte, Diagnostiker wie Fernseharzt Dr. House. Sie finden, auf einer medizinischen Ausbildung basierend (von dem sympathisch frustrierten TV -Humpeldoktor inspiriert, immer häufiger auf recht unkonventionelle Art und Weise), heraus, was einem im Kopf oder in der Seele oder im Neurotransmitteraufbewahrungsort des Hirnes fehlt. Sie stellen eine messerscharfe Diagnose und verschreiben gegebenenfalls Tabletten.
Dr. Kleve ist Fachärztin für Psychiatrie und unsere dritte Wahl. Mama und ich fahren seit neun Uhr morgens durch die Stadt, um einen Arzt zu finden, der sich Zeit nimmt für mich. Die beiden ersten, Mamas eigene Psychiaterin und die einer Bekannten, haben entweder keine Sprechstunde oder nehmen keine neuen Patienten. Wir beschließen, meine Verfassung ein wenig zu dramatisieren. Ich habe gut geschlafen und fühle mich zwar schwach, aber relativ ruhig und sicher, trotzdem erzähle ich der Sprechstundenhilfe, dass ich akute Angstzustände habe. Das funktioniert, und ich bekomme eine Audienz.
Frau Dr. Kleve erinnert mich an Jodie Foster, was ich enorm beruhigend finde. Sie ist konzentriert und ernst, blickt mir sehr aufmerksam und feste in die Augen, fragt mich nach Symptomen im Speziellen und meinen aktuellen Lebensumständen im Allgemeinen. Inzwischen kann ich diese Fragen sehr gut zusammenfassend beantworten, so oft, wie sie mir von meinem Umfeld gestellt wurden. Ich ärgere mich ein wenig, dass ich meinen Monolog nicht auf Band aufgenommen habe, dann müsste ich ihn zukünftigen Ärzten nur noch vorspielen und könnte in der Zwischenzeit in Ruhe popeln oder eine rauchen gehen.
Frau Dr. Kleve erklärt mir sachlich, dass ein ausgeglichenes Leben auf fünf Säulen steht: Familie, Liebe, Wohnung, Beruf und Freunde stützen es. Bei mir allerdings sind in kurzer Zeit mehrere Säulen weggebrochen. Das verursacht ein Ungleichgewicht, das nicht für jeden tragbar ist. Es ist also völlig nachvollziehbar, warum es mir so geht, wie es mir geht. Des Weiteren erklärt sie mir den medizinischen Hintergrund einer Depression: Soweit ich das verstanden habe, wird während einer Depression aus irgendwelchen Gründen weniger Serotonin produziert. Das ist ein Botenstoff, der im Gehirn unter anderem Erregung weiterleitet. Wut und Trauer und Angst werden nicht mehr vernünftig über die Synapsen weitergegeben und recycelt, und es kommt zu einem Erregungsstau. Wie wenn die Toilette verstopft ist. Die Kacke stapelt sich. Für diesen Fall werden oft Antidepressiva verschrieben, die das mit dem Serotonin wieder in Ordnung bringen. Frau Dr. Kleve hat mir das sehr genau beschrieben, sogar aufgemalt, aber ich habe nur die für mich interessanten Fakten behalten: Ich bin verstopft. In meinem Kopf wird nicht mehr aufgeräumt, ich kann bei meinen Gefühlen nicht mehr zwischen wichtig und unwichtig entscheiden. Also bitte gern
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