Maengelexemplar
lächle matt und gehe ins Bad.
Im Auto schlafe ich dauernd ein. Ich kauere auf dem Beifahrersitz und nicke immer wieder weg. Nelsons Anwesenheit ist beruhigend. Er lässt mich schlafen, versucht nicht, mich zu unterhalten. Er liefert mich bei Anette ab und sagt: »Ich warte im Auto. Wenn du fertig bist, würde ich gern mal mit Anette reden, wenn du nichts dagegen hast.« Whatever.
»Na, Karo?«, sagt Anette zur Begrüßung. Ihre irrsinnig blauen Augen sind sorgenvoll und blicken mich sehr genau an. Ich habe dicke Augen vom Weinen, das kann ich spüren. Vermutlich sehe ich aus wie ein Boxer nach einem Kampf. Ich bin zu schwach für einen Witz, der dieses Thema aufgreift, und lasse mich einfach in den Ledersessel fallen und fange wieder an, zu weinen.
Anette überrascht mit einem Strategiewechsel: Ich soll mich auf eine Matte legen, die sie auf dem Boden ausrollt. Sie setzt sich neben mich und wickelt meinen Körper irgendwie um sich herum. Ich liege auf der Seite, mein Bauch an ihrem sitzenden Po, meine Oberschenkel an ihrem linken Oberschenkel, meine Arme und Brust an ihrem rechten Oberschenkel. Ich bin fast wie ein Gürtel. Mit der einen Hand hält sie meinen Kopf, mit der anderen meine Füße. Und dann sagt sie: »Lass mal los jetzt!« Ich habe inzwischen schon verstanden, dass sie das im übertragenen Sinne meint, also lasse ich los. Ich heule wie ein sehr kleines Kind: Ich schluchze, und mein ganzer Körper wird durchgeschüttelt von heftigen Wein-Wehen, ich ringe nach Luft und lasse laufen. Bringt ja nix. Und Anette hält mich einfach nur fest und streichelt Füße und Kopf und sagt immer wieder: »Lass alles raus!«
Nachdem nun wirklich das letzte bisschen draußen ist, werde ich ruhiger. Alles alle. Mein Kopf pocht dumpf meinen Herzschlag nach, die Augen sind fast vollständig zugeschwollen, und ich fühle mich großartig. Vollkommen leer, und das ist wirklich das Beste, was mir zurzeit passieren kann.
Wie in Trance sage ich: »Danke sehr.« Anette lächelt und umarmt mich. Sie sagt, dass ich sie notfalls auch zu Hause anrufen kann und dass wir mich wieder hinkriegen. »Ach, das wäre schon toll«, brabbele ich und schleiche die Treppen hinunter und schicke meinen persönlichen Pfleger Nelson nach oben. Während meine beiden Erziehungsberechtigten über ihr Problemkind sprechen, rauche ich und freue mich über die angenehme Leere in mir. Da ist nichts mehr drin. Keine Angst, keine Traurigkeit, allerdings auch sonst keinerlei Empfindungen. Ich wette, ich könnte jetzt sehr langsam über glühende Kohlen laufen. Vielleicht sollte ich die Gelegenheit nutzen und noch schnell Geld damit verdienen. Ich überlege, wie viel Eintritt ich für Rolle vorwärts auf einem Nagelbrett nehmen könnte, da kommt Nelson und fragt, was ich jetzt machen möchte.
»Nelson, es geht mir gut. Ich glaube, ich kann jetzt wieder mit mir allein sein. Du warst so toll die letzten Tage, und ich bin dir so fürchterlich dankbar, dass ich gleich wieder heulen könnte, aber trotzdem denke ich, dass ich jetzt wieder ohne dich Leben spielen sollte!«
»Nix da!«, sagt Nelson. »Ich habe mir die nächste Woche freigenommen und muss bis auf ein paar wenige Termine kaum in den Sender. Ich bin hiermit offiziell dein Zivi. Sieh das als eine Art Altersvorsorge. Wenn
ich
verrückt werde, musst du dich um mich kümmern!« Nelson ist nicht doof. Er weiß genau, dass ich mit so viel Zuwendung nicht umgehen kann. Er tarnt seine Freundschaft in schlechten Zeiten als eine Art Deal. Genau das, was ich brauche. Ich rebelliere nicht, dazu bin ich dann doch zu schwach, sondern freue mich sehr. Endlich jemand, der auf Liebes-Abruf steht. Super. »Trotzdem schlafe ich heute nicht nochmal bei euch«, bestimme ich, »das ist mir echt unangenehm, und außerdem muss ich auch in der Lage sein, alleine zu schlafen.«
»Wie du willst, darüber können wir ja später reden. Lass uns erst mal spazieren gehen oder so. Du brauchst ein bisschen frische Luft.« Phrasendrescher! Aber recht hat er.
Also spazieren wir ein wenig im Park rum und trinken Heißgetränke im Café und spielen Karten.
Ich fühle mich zunehmend stabiler, verabrede mich sogar für den Abend mit Freunden zum Kino. Den Pfleger Nelson entlasse ich nach einer Acht-Stunden-Schicht in den Feierabend. Im Kino wird Horror gesehen, und bis auf zwei sehr kleine Angstwellen, die ich aber schnell mit richtiger Atmung in den Griff bekomme, verläuft alles gut. Wahrscheinlich kann ich mit dem Thema
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