Maengelexemplar
her mit den Tabletten.
Aber Frau Dr. Kleve möchte erst noch ein paar Informationen über mich. Und ich möchte eigentlich auch noch ein bisschen mehr erfahren. »Habe ich jetzt eine echte Depression? Wie lange dauert so was?«
»So einfach ist das alles nicht, Frau Herrmann«, sagt sie. »Ihre Symptome sind nicht eindeutig. Besonders symptomatisch für eine Depression ist zum Beispiel starkes Grübeln. Grübeln Sie viel?«
Darüber grübele ich kurz nach. »Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Nicht mehr als sonst. Also jedenfalls nicht so, wie ich mir klassisches Grübeln vorstelle. Über den Sinn des Lebens zum Beispiel. Nein, eigentlich nicht.«
»Haben Sie Probleme beim Einschlafen?«
»Nein. Also normalerweise ja, aber seit alles so schlimm ist, kann ich das wirklich gut. Also Einschlafen. Auch Durchschlafen. Nur das Aufwachen ist schrecklich.« Ich erkläre ihr, wie fürchterlich meine Morgen sind. Sie sagt, dass eigentlich schlechte Abende symptomatisch wären.
Nach noch ein paar weiteren Fragen schließt sie vorerst eine klassische Depression aus, zieht aber eine depressive Verstimmung in Erwägung, was sehr gut auf meine Lebensumstände zurückzuführen sei. Außerdem hält sie es für wahrscheinlich, dass ich eine Anpassungsstörung habe. Das glaube ich gerne, Neues macht mir nämlich immer erst mal Angst.
Frau Dr. Jodie Foster Kleve verschreibt mir ein leichtes Antidepressivum, das zusätzlich angstlösend wirkt. Sie erklärt, dass die pharmazeutische Entwicklung in diesem Bereich schon sehr weit fortgeschritten ist, dass die Tabletten nicht abhängig machen und keine dauerhaften schädlichen Nebenwirkungen haben. Ich soll sie mindestens ein halbes Jahr lang nehmen, denn Serotonin braucht eine ganze Weile, um sich zu regulieren, und ich soll mich nicht wundern, während der ersten Tage der Einnahme können ein paar Nebenwirkungen auftreten, die aber in fast allen Fällen unbedenklich sind und nach spätestens einer Woche wieder verschwinden werden. Leider verstärken sich dabei oft bereits bestehende Symptome wie Unruhe oder Müdigkeit. Die angstlösende Wirkung setzt normalerweise recht zügig ein, die antidepressive nach spätestens drei Wochen. Für den Notfall gibt sie mir ein Rezept für die gleichen blauen Beruhigungstabletten, die ich in der Notaufnahme bekommen habe. Nur für akute Panikanfälle, denn diese Tabletten machen bei Missbrauch tatsächlich abhängig. Top, die Wette gilt.
In drei Wochen will mich Frau Dr. Kleve wiedersehen, sollte ich Probleme mit den Tabletten haben, kann ich gern auch einfach früher vorbeikommen. Auch sie empfiehlt, weiter zur Therapie zu gehen, und auf meine Frage, wann ich denn wieder völlig gesund bin, antwortet sie, zum ersten Mal lächelnd: »Das kann man nicht so genau sagen, aber Ihr Liebeskummer wird spätestens in einem halben Jahr sehr viel besser aussehen.«
Na denn. Wenigstens das.
Wieder mit Mama zu leben ist eigenartig und schön. Wir sind eine Mädchen- WG . Ganz schnell haben wir kleine Rituale: Mama steht immer vor mir auf. Sie braucht eine halbe Stunde, um mit Hilfe eines Kaffees langsam die Bühne des neuen Tages zu erklimmen. In dieser Zeit wälze ich mich im Bett und versuche, müde zu bleiben, um nicht so schnell dumpf zu werden. Wenn ich das aufgebe und ins Bad schlurfe, schmeißt Mama den Wasserkocher für meinen Getreidekaffee an. Ich bin so unruhig, dass richtiger Kaffee mich wie einen Werber auf Koks wirken lassen würde. Und das ist ja schon ohne Depression nicht erstrebenswert. Mit frischem Atem und hängendem Oberkörper schleiche ich in die Küche, wo Mama jeden Morgen einen Toast mit irgendwas drauf für mich hinstellt, den ich jedes Mal nicht esse. Besonders morgens ist essen komplett unmöglich. Nach dem Aufwachen habe ich ein Gefühl wie vor enorm wichtigen Prüfungen oder einer Operation am offenen Herzen. Stundenlang. Da kann man nichts essen. Aber meine Mama ist eben eine Mama und bittet mich, wenigstens die Hälfte zu essen, und wir einigen uns auf einen Bissen, nach dem ich immer theatralisch »Bäh!« sage. Aber wir lassen mich nicht verhungern. Wir kaufen dicke Schokomilch und Gemüsesaft, denn trinken geht gut. Mit unseren Heißgetränken nehmen wir immer zur gleichen Zeit unsere
Mackentabletten
, die gemeinsam wie gute Freunde in einem kleinen Tonschälchen liegen. Das finden wir beide sehr komisch. Dann wird die Balkonschicht ausgelost. Mama will meistens nur eine Zigarette lang (in meiner Familie wurde Zeit
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