Maengelexemplar
eine ähnliche Intimität einfordern. Und Mama drehte sich weg und sagte: »Bitte nicht, ich mag das nicht so gern.« Und der kleine tapfere Emo-Soldat, der ich war, dachte sich nichts. Speicherte einfach ab. Aha. Soso. Kein Kuscheln mehr. Wird schon seine Richtigkeit haben. Aye-aye, Sir. Ich habe das, soweit ich weiß, nie hinterfragt. Nicht gequengelt, nicht bittebitte gesagt. Einfach umgesetzt.
Generell wurde ich ziemlich streng erzogen. Verbummelte ich zum Beispiel meine Fellmütze, gab es zwei Wochen Hausarrest. Fand ich sie ein paar Tage später in der Schule wieder, änderte das nichts an der Strafe. Verlor ich meinen Schlüssel, der immer an meinem Hals zu baumeln hatte, gab es Fernsehverbot. Hatte ich mein Bett nicht gemacht und Mama zusätzlich einen schlechten Tag, gab es eine ordentliche Ohrfeige. Zack, so einfach.
Meine unvermeidliche Pubertät überforderte Mama und mich wohl gleichermaßen. Ich wurde laut, zickig, aufmüpfig. Zwischen Mama und mir wurde es unerträglich. Die letzte Backpfeife bezog ich mit sechzehn.
Aber meine Mama konnte auch großartig sein. Jedes Jahr bastelte sie mir einen Adventskalender mit kleinen Geschenkchen drin, sie malte mir lange und bunte Briefe ins Ferienlager, machte meine Geburtstage zu einem aufregenden Event, und als ich zum ersten Mal meine Tage bekam, schenkte sie mir einen Blumentopf. »Richtige Frauen kriegen auch richtige Blumen!«, sagte sie und ging mit mir zusammen Binden kaufen.
Als ich achtzehn wurde, schrieb sie mir einen rührenden Brief, den sie auf den Geburtstagstisch legte. Sie beschrieb ihre Schwangerschaft, ihre Ängste damals, meine Geburt, meine ersten Jahre, wie sehr sie mich geliebt hat und wie sehr sie es noch tut. Dass sie stolz auf ihr »schönes und schlaues Kind« ist und dass sie mir so sehr wünscht, glücklich zu werden im Leben. Sie bat mich, ihr ihre Ungeduld mit mir und ihre Strenge zu vergeben. Sie wollte es immer besser machen als ihre Eltern, aber irgendwie fiel der Apfel dann doch recht stammnah.
Meine Mama hat mich sehr lieb, und das weiß ich. Sie hat es einfach nicht leicht gehabt, und niemand versteht besser als ich, dass es schwer ist, die Nerven zu behalten, wenn einem das Leben ins Gesicht spuckt.
Mit neunzehn Jahren nahm ich mir eine eigene Wohnung, woraufhin sich das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter schlagartig entspannte. Mama zog aus der Wohnung meiner Kindheit aus, verliebte sich neu und wurde, fünf Jahre später, wieder verlassen. Ich brachte Schokolade und Musik und schlaue Worte gegen den Liebeskummer, Mama war stolz auf mich und froh, dass ich da war.
Irgendwann wurde sie krank. Manche Sachen werden einem ja nur unzureichend erklärt, also dachte ich, es ginge ihr körperlich schlecht, aber es war ihre Seele, die krank wurde. Sie bekam Angstzustände und Tabletten. Sie zog für sechs Wochen zu Oma und erzählte am Telefon nur wenig über sich und lenkte das Thema auf mich um.
Wie geht es denn dir so?
Depressionen sind vererbbar. Ob Oma auch welche hat, fragte ich mich damals in die falsche Richtung. Heute weiß ich, dass wir uns sehr ähnlich sind. Dass wir funktionieren wollen. Müssen. Alles andere ist indiskutabel.
Ich bin zum Kaffee in Mamas kleine Zwei-Zimmer-Wohnung geladen. Sehr unregelmäßig machen wir das. Wir rauchen viel, trinken ordentlich Kaffee und reden über dies und das. Manchmal ist es ganz entspannt, manchmal eine Pflichtveranstaltung. Vor allem in den letzten Monaten hatte ich einfach nicht mehr so viel zu erzählen. Wo weder Job noch Freund sind, gibt es auch keine aufregenden Geschichten.
Müde klingele ich und hoffe, dass wir heute schnell miteinander durchkommen. Mama macht die Tür auf. »Mutti!«, sage ich grinsend, um sie zu ärgern, und ehe ich mich versehe, schießt mir das Wasser in die verquollenen Augen. Mama nimmt mich wortlos in den Arm und beginnt sofort eine professionelle Evakuierung. Ich werde ausgezogen und aufs Bett manövriert. Sie legt sich neben mich und macht alles richtig. Sie drückt mich an ihre Brust und streichelt mir langsam und ausdauernd über den Bauch, während ich mich leer weine. Ich erinnere mich nicht daran, ihr körperlich jemals so nah gewesen zu sein. Dann kocht sie mir Kaffee und steckt mir eine Zigarette in den Mund. Ich sage nichts, und sie fragt nichts. Ich rauche, sie streichelt. Irgendwann sagt sie doch was: »Papa hat mich vorhin angerufen.« Ich fühle mich für einen Moment verraten. Man hat hinter meinem Rücken über
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