Maengelexemplar
rund geschliffenen durchsichtigen Stein, so groß wie ein Daumennagel. »Das ist Bergkristall«, sagt Mama. »Bergkristall zieht schlechte Energien aus dir raus. Egal, ob du den jetzt schick findest oder nicht, der hilft!« Das ist gut, finde ich und schlafe mit Bergkristall am Finger und angeschaltetem Licht ein.
Ich gebe dann jetzt mal auf.
Ich kann zurzeit nicht alleine sein, geschweige denn, alleine wohnen.
Ich bin ein bisschen kaputtgegangen.
Ich kann das mal nicht alleine wieder auf die Reihe kriegen.
Ich bin zur Kur.
»Das Hotel Mama hat exklusiv vierundzwanzig Stunden für dich geöffnet, und der Concierge hat dich sehr lieb«, sagt der Concierge Mama.
»Aber ...«, murmle ich.
»Ich bin deine Mama, das hier ist mein Job, wenn du dich noch einmal für die Umstände entschuldigst, wirst du enterbt«, droht Mama. Das ist natürlich lächerlich, weil Mama nicht einen Pfennig zum Vererben hat.
»Deine Depression haste mir schon vererbt. Bei dir ist nix mehr zu holen«, witzele ich. Mama grinst fast stolz und sagt, dass wir beide nun mal Mackenmädchen sind. Dass wir super aussehen, aber eben eine Macke haben.
Wir versuchen, uns trotzdem irre reizvoll zu finden.
In den nächsten Tagen geht es langsam voran. Die Nebenwirkungen der Antidepressiva halten sich in Grenzen. Ich bin weiterhin sehr unruhig, aber das legt sich im Laufe des Tages ein wenig, außerdem habe ich immer einen trockenen Mund und schwitze vermehrt. Ich muss auch öfter pinkeln als sonst, aber da ich fast ausschließlich in Mamas Wohnung bin, ist ein Klo jederzeit in der Nähe.
Ich fühle mich nicht besser, aber ausgeglichener. Die Kopfverstopfung löst sich. Ich bin immer noch traurig und unglücklich, aber ich bin nicht mehr überfordert. Ich akzeptiere, und die Tabletten machen ihren Job. Eine Befürchtung, die viele Menschen haben, ist, dass Antidepressiva das Bewusstsein, die eigene Persönlichkeit verändern. Dass man von Tabletten gesteuert ist und nicht mehr man selbst. Das stimmt aber nicht. Ich fühle mich nicht fremd. Die Tabletten machen mich nicht falsch glücklich, nur weniger chaotisch. Ich bin traurig, wenn ich traurig bin, und unsicher und ängstlich, wenn es passt. Nicht mehr alles auf einmal. Und allein das erleichtert mich ungeheuer. Im Auto kommen mir die Tränen, wenn im Radio ein trauriges Lied läuft. Philipps und mein Lied. Aber es gefällt mir, denn ich weiß in dem Moment, warum ich weine. Weil mir Philipp fehlt, und weil ich mir leid tue. Das ist super!
Mama und ich gehen Babyschritte mit mir. Wir nehmen uns immer nur eine aufregende Sache pro Tag vor: Manchmal ist das ein Ausflug in den Supermarkt, um Lebensmittel zu kaufen, die ich eh nicht esse. Am nächsten Tag ist es ein Spaziergang zum nahe gelegenen Einkaufszentrum, um noch mehr blöde Mädchenbücher zu kaufen. Ich lese eins pro Tag. Ich bin immer noch sehr müde und schlafe manchmal tagsüber ein. Nach wie vor macht mich das dumpf und traurig. Jeden Abend steckt mich Mama in die Badewanne und sagt, dass ich mir die Füße eincremen soll. »Die tragen dich schließlich durchs Leben!« Irgendwie machen wir in diesen Tagen nochmal meine gesamte Kindheit durch. Diesmal richtig. Ich glaube, dass ich Mama auch gut tue. Wir spielen Zeitreise und verändern die Vergangenheit. Abends wirft sich Mama zu mir aufs Bett und sagt: »Habe ich Ihnen heute schon gesagt, dass ich Sie lieb habe?« Ich antworte dann immer: »Nein«, und dann sagt Mama, dass sie mich lieb hat. Dann checkt sie ihre Mails, denn der Computer steht in ihrem Schlafzimmer, in dem ich jetzt wohne, und danach spielt sie noch ein bisschen Solitär am PC . Wir rauchen eine Gute-Nacht-Zigarette zusammen, und anschließend geht sie ins Wohnzimmer auf die Couch. Nach ein paar Tagen kaufe ich ihr ein kleines ausklappbares Gästebett, damit sie es nicht ganz so ungemütlich wegen mir hat.
Weiterhin versuche ich, alles gut und richtig zu machen. Ich nehme meine Tabletten, gehe zur Therapie, überfordere mich nicht.
Ich akzeptiere wie eine Besessene, dass ich
krank
bin, dass ich daran nichts ändern kann und dass alles wieder gut wird.
Ich versuche, auf Anettes ausdrücklichen Rat hin, mich selbst mehr zu spüren, was auch immer das bedeutet. Ich soll mir Gutes tun. Freundlich zu mir selbst sein.
Hallo, liebe Karo, wie geht es dir heute? Gut? Schön! Kann ich sonst noch was für dich tun? Nein? Bitte lass es mich wissen, wenn du etwas brauchst!
Manchmal streichele ich mich heimlich. Am Arm, im
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