Maengelexemplar
finde mich ab. Ich wende mich in eine andere Richtung. Von der alten habe ich eh Genickstarre.
Die Kur bei Mama tut mir gut. Aber ich bin nicht angstfrei, im Gegenteil. Wenn Mama zur Arbeit muss und Nelson keine Zeit hat, ich also allein bin, werde ich unruhig. Ich werde ein wenig zittrig und kann meinen Herzschlag überdeutlich spüren. Aber ich schaffe es, richtige Panikanfälle auszubremsen. Ich atme willkürlich in irgendwelche Körperteile und gehe viel spazieren.
Eigentlich bin ich eher lauffaul, aber hier entdecke ich ausgedehnte Spaziergänge für mich. Ich latsche dauernd mit winzigkleinen Schritten durch Mamas grüne Wohngegend. Ich laufe sehr langsam durch diverse Parks, schlurfe kleine Nebenstraßen entlang. Die Menschen, die ich treffe, schauen mich an, als wollten sie mir über die Straße helfen. Ich sehe aus wie eine kleine Omi. Gebückt, verlebt, tapfer. Ich mache oft an Bänken halt und sitze manchmal stundenlang zwischen einem Rosenbeet und einem Penner und starre rum. Der Penner will nichts, er sieht, dass es bei mir grad nichts zu holen gibt. Einmal bietet er mir sogar ein Bier an. »Nein danke«, sage ich, »Alkohol verträgt sich mit meinen Tabletten nicht so gut.« Der Penner seufzt und nickt, er scheint zu wissen, wovon ich spreche.
Ich esse immer noch zu wenig, fühle mich dumpf und nach wie vor ausgeschlossen vom normalen Leben, aber es geht stetig voran.
Ich treffe Nelson fast jeden Tag, wir sitzen in Cafés und spielen Karten und teilen uns Suppen. Wir päppeln mich auf, und wenn Nelson gegen mich im Spiel gewinnt, sage ich: »Ich hasse dich mehr als mein Leben!« Der stärkste Fluch, den ich dieser Tage aussprechen kann.
Ich fahre einmal am Tag in meine eigene Wohnung, damit ich keine Psychose entwickle. Meine Wohnung muss mein Freund bleiben, sonst bin ich am Ende doppelt obdachlos. Ich kann ja nicht für immer bei Mama und unter Aufsicht bleiben. Also probe ich für ein paar Stunden das ganz normale Leben. Parkplatz suchen, Post holen, Wohnung aufschließen, reingehen, drin bleiben ohne Panik. Der vermeintliche Herzinfarkt vor ein paar Wochen hat hier natürlich einen hässlichen Geschmack hinterlassen, ich muss also ganz von vorn anfangen.
Hallo, liebe Wohnung, na, kennste mich noch? Ich bin’s, Karo. Ich tu dir nichts, wenn du mir auch nichts tust.
Erst mal die Wohnung in Ruhe an mir schnuppern lassen. Vertrauen aufbauen. Nicht direkt in die Augen sehen, sich am besten auf den Rücken drehen, Arme und Beine in die Luft, Bauch zeigen.
Siehste, Wohnung, ich bin ganz harmlos und schutzlos.
Meine Wohnung kuckt misstrauisch, aber sie tut mir nichts. Sie will wohl erst mal abwarten.
Anette hat mir erklärt, dass meine Wohnung in den letzten Monaten mehr Gefängnis als Basis war. Das passiert schnell bei Arbeitslosigkeit. In den eigenen vier Wänden zu sein, ohne etwas zu tun zu haben, lässt diese beiden Dinge miteinander verschmelzen. Der Pawlow’sche Reflex. Zu Hause sein ist gleich tatenlos und einsam sein. Mir wird bewusst, dass ich mich während der letzten Monate vor meinem Zuhause gedrückt habe. Ich habe nie Besuch empfangen, obwohl meine Wohnung ein beliebtes Ausflugsziel für meine Freunde ist. Sie ist sehr schön und hell und vor allem raucherfreundlich. Überall Aschenbecher, sogar im Bad. Trotzdem traf ich mich ausschließlich in Kneipen oder in muffigen Studenten-WGs, in denen man auf dem Balkon rauchen und leise sein muss, weil irgendein Mitbewohner einen Kater ausschläft oder für die Zwischenprüfung lernt.
Ich nehme mir vor, dies zu ändern. Ich muss. Denn meine Wohnung ist mein einziger Verbündeter. Die einzige Konstante in meinem Leben, eine Instanz, die nicht über meine Anwesenheit meckern kann. Der ich nichts vormachen muss. Liebe Wohnung, ich will alles wiedergutmachen!
Mamas Rücken und ich beschließen, dass ich wieder alleine wohnen will. Mama selbst findet das natürlich nicht und sagt, ich soll mir alle Zeit der Welt nehmen, aber das Gästebett im Wohnzimmer hat gepetzt, dass Mama gern mal wieder in ihrem eigenen Bett schlafen möchte. Und ich eigentlich auch. Also in meinem. Da wir aber alle aus meinem überstürzten Auszug vor wenigen Wochen gelernt haben, wollen wir es langsam angehen lassen. Wir stellen einen hübschen Plan auf, der sicher auch bei Scheidungskindern angewandt wird: Ich schlafe eine Nacht zu Hause und dann wieder zwei bei Mama. Eine Woche lang. Sollte das gut klappen, schlafe ich immer abwechselnd hier und dort. Dann
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