Maengelexemplar
Ordnung.
In diesem Moment beginnt Phase drei. Man ist so gebeutelt von den ersten zwei Phasen, dass man den nachlassenden Schmerz zuerst nicht einordnen kann, aber dann treibt es einem die Tränen der Erleichterung in die Pupillen.
Also sitze ich neben meinen Freunden im Kino, und ganz leise kullern zwei rosafarbene Tränen über mein heimlich stolz grinsendes Gesicht.
Mein Leben normalisiert sich. Ich bin viel zu Hause und fühle mich dort wohl, ich lade Freunde auf eine Tütensuppe zu mir ein und treffe Menschen, die mich in den letzten Wochen nicht zu sehen bekamen. Alle sind berührt von meinem Schicksal, die meisten sind vor allem überrascht. Sie finden mich so
offen
und
ehrlich
und
verwundbar
. Man kenne mich gar nicht so. Ich finde es widerlich. Meine Freunde geben mir das Gefühl, unnahbar gewesen zu sein. Dabei war ich nie besonders gefühlskalt. Wenn ich weinen musste, dann tat ich es, und wenn ich wütend war, dann merkte man das auch. Ich habe mit meinen Gefühlen nie hinterm Berg gehalten. Ich fühle mich plötzlich wie ein Gast in einer Vorher-Nachher-Show, in der alle meine Bekannten mit großen Augen um mich herumstehen und
oh
und
ah
raunen. Ich war also ein hässliches Entchen, und nun bin ich ein stolzer Schwan? Ich bin enttäuscht. Mein Instinkt rät mir, sofort der Welt die gesamte Schuld auf ihre buckligen Schultern zu schnallen. Aber selbst für einen Bestrafungsfetischisten wie mich ist der Haken deutlich spürbar: All diese Menschen können nicht irren.
Ich gehe weiterhin zur Therapie und spreche Anette auf meine Freunde an: »Es ist fürchterlich, dass es alle so angenehm finden, mich verletzlich zu sehen!«, meckere ich.
Anette ist wie immer die Ruhe selbst. »Karo, die Leute wollen dir damit doch nicht wehtun. Sie freuen sich nicht über deinen Zustand. Sie haben es nicht gemerkt, wenn es dir schlecht ging, und jetzt sind sie nur überrascht.«
»Ihre Überraschung finde ich genauso ekelerregend. Das bedeutet, dass mich keiner von denen wirklich kennt. Dass alle immer nur die starke, lustige Karo gesehen haben und nie in Erwägung gezogen haben, dass ich auch traurig sein kann.«
»Vielleicht ist das eben das Bild, das du deinem Umfeld von dir vermittelst.«
»Ach, das ist doch Quatsch, Anette. Ich verstecke meine Gefühle nicht. Im Gegenteil, ich lege sofort direkt los!«
»Das stimmt, aber du bist sehr schnell darin. Du brichst wie ein kleiner Vulkan explosionsartig aus, und ehe man sich versieht, machst du einen Witz und wechselst das Thema, und alles ist vorbei.«
Ich fühle mich ertappt. Anette hat recht. Ich zeige durchaus Emotionen, glaube aber sofort, schon zu viel der Zeit meines Gegenübers beansprucht zu haben, und nehme die nächste Ausfahrt Gag. Sehr leicht zu durchschauen. »Meine Freunde müssen den Trick doch kapieren und nochmal nachfragen!«
Anette lächelt. »Karo, die anderen müssen gar nichts. In deiner Wunschwelt würden sie dich durchschauen und schütteln und retten. Aber in ihrer Welt sind sie vielleicht einfach unsicher oder glauben, dass du nicht über dich sprechen willst.«
Ach, Scheiße, denke ich.
»Ach, Scheiße!«, sage ich.
»Karo, Menschen sind unterschiedlich! Und du wirst sie nicht ändern können!«
»Aber ich werde doch wohl noch ein bisschen mehr Empathie verlangen können?«, frage ich, die Antwort schon wissend. Anette weiß auch, dass ich die Antwort schon weiß, und sagt deshalb nichts.
Ich gehe nach wie vor jede Woche einmal zu Anette. Ohne dass ich es mitbekommen habe, ist meine beantragte Kurzzeittherapie vorbei. Fünfundzwanzig Stunden Kopfreparatur sind abgelaufen, und Anette und ich müssen darüber sprechen, ob ich jetzt durch den Seelen-T Ü V komme oder nicht. Anette ist schlau und fragt deshalb zuerst, wie ich das so sehe. Ich weiß es nicht. Irgendwie weiß ich immer weniger. In jeder Sitzung sprechen wir viel, finden rote Fäden in mir und sortieren mich. Weisen Gefühlen Geschehnisse zu. Nach den Sitzungen ist mir immer ganz schwindlig, so viel habe ich über mich erfahren. Anette meint, dass viele Gefühle, die ich habe, alte Gefühle sind. Gefühle von früher, die einer fünf- oder zehn- oder zwölfjährigen Karo. Dass meine Ängste und Unsicherheiten antrainiert sind. Dass man diese alten Reaktionen nicht wegbekommen kann. Aber dass man lernen kann, sie als solche zu identifizieren. Sich klarzumachen, dass das aktuelle Gefühl nicht notgedrungen etwas mit dem aktuellen Geschehnis zu tun hat. Aber ich bin mir
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