Maengelexemplar
Nägel mit Köpfen zu machen und direkt für immer zu Hause zu bleiben, aber mein persönlicher Karmapolizist hebt seinen Verkehrsregelstab und sagt: »Nanana, Frau Herrmann! Überstürzen Sie nichts!«
Entschuldigung, Officer! Natürlich haben Sie recht.
Ich mache mir den ersten Kur-Getreidekaffee in meinem alten neuen Zuhause und spiele alle Rituale durch, die ich sonst bei Mama habe: Tablette essen, Toast ignorieren, auf dem Balkon liegen und am Kaffee nippen. Ich freue mich so sehr, dass ich mich gar nicht auf mein Entspannungsritual konzentrieren kann. Ich stürze den Kaffee runter und verabrede mich mit Nelson. Er will mich zur Therapie fahren, danach wollen wir Kindersekt mit Zuckerrand trinken. Bei
mir
.
Auch Anette ist stolz und lobt unseren Übernachtungsplan. Sie findet, dass ich alles richtig gemacht habe und dass ich weiter langsam daran arbeiten soll, meine Wohnung zu meinem Freund zu machen. Ich soll mich weiterhin mehr spüren. Da ich nach wie vor nicht verstehe, was damit gemeint ist, konzentriere ich mich auf den Teil mit meiner Wohnung.
Nelson und ich fahren zu IKEA und kaufen unnützen, gefälligen Kram wie Vanillekerzen, Bilderrahmen und kuscheliges Zeug zum Drauf- und Drüber- und Drunterlegen und drapieren alles schön in meiner Wohnung. Ich mache Zuckerrand an Biergläser und schenke Nelson und mir großzügig »Robby Bubble Kindersekt Erdbeere« ein. Es schmeckt doof und nach Kaugummi, aber auch nach Freiheit.
Ich fühle mich zum ersten Mal seit Wochen so, als wenn tatsächlich alles wieder gut werden könnte.
Mein zweiter offizieller Check-out aus dem Hotel Mama ist besser als der erste vor sieben Jahren: Ich habe keine Pickel mehr, und Mama seufzt nicht erleichtert.
Mama findet meinen Auszug ein wenig schade, ich glaube, sie hatte sich an uns gewöhnt. »Aber wenigstens kann ich wieder Herrenbesuch empfangen«, kichert sie. Das ist lustig, weil Mama nie Herrenbesuch hat. »Gut«, sage ich, »dann pass auf dich auf, benutze Kondome, und wenn am nächsten Tag Schule ist, bist du um 23 Uhr zu Hause, junges Frollein!«, witzele ich zurück. Sie wird mir auch fehlen, meine Mama. Es ist ein bisschen so wie nach dem Ferienlager: Man verspricht sich, in regelmäßigem Kontakt zu bleiben und mindestens einmal am Tag zu telefonieren. Fast glauben wir es, aber wir kennen uns zu gut. In spätestens einer Woche lebt jeder wieder sein Leben. Und das ist in Ordnung so, denn Mama soll sich wirklich mal um Herrenbesuch kümmern, und ich muss an der Beziehung zu meiner Wohnung arbeiten.
»Tschüssi, Mama«, fange ich an, zu schniefen, und zaubere von irgendwoher einen riesigen Blumenstrauß hervor. »Und danke, dass ich hier wohnen durfte!«
»Ach jetzt reiß dich mal zusammen, blöde Kuh!«, schnieft Mama. »Du kannst jederzeit wiederkommen, wenn du möchtest!«
Dann werde ich geküsst und aus der Tür geschoben.
Ich habe eine Theorie über Liebeskummer. Ich teile ihn in drei Phasen ein, und dieses Modell gilt eigentlich für jeden mittelstarken Kummer.
Die erste Phase zeichnet sich aus durch allgegenwärtigen heißen, brennenden Schmerz. Einer offenen Wunde gleich. Jede Sekunde fühlt sich an, als ob einem jemand auf eine frische Schürfwunde pinkelt. Diese Phase währt gar nicht so lange, wie man immer denkt. Sie dauert etwa einen Monat.
In der zweiten Phase wird der Schmerz dumpf und pocht so komisch. Gut zu vergleichen mit mittelstarken Zahn- oder Kopfschmerzen. Außerdem bewegt sich der Kummer in Wellen: Manchmal kann man gut rausschwimmen, dann wiederum sollte man lieber am Strand bleiben oder wenigstens Schwimmflügelchen tragen. Obwohl die Intensität wechselt, ist das Gefühl immer noch ständig präsent, nur besser auszuhalten. Auch bei Ebbe puckert es in einem drinnen. Die zweite Phase zieht sich unterschiedlich lange hin. Etwa zwei bis vier Monate.
Der Übergang in die letzte Phase kommt oft überraschend. Mich erwischt es im Kino mit Nelson und seiner Frau. Mitten im Film passiert irgendwas mit mir. Etwas ist anders, ungewohnt. Sofort mache ich mit meinem tragbaren Minilabor einige schnelle Untersuchungen und teste auf Unruhe, Angst, Trauer oder Schmerz, aber alle Testergebnisse sind negativ. Ich bin verwirrt und besorgt, weil ich das neue Gefühl nicht einordnen kann. Ich ziehe kurz in Erwägung, dass mein Emo-Laborkoffer zum TÜV muss, aber dann verstehe ich es plötzlich: Ich bin zufrieden. In mir ist nichts, was stinkt oder hässlich ist. Ich bin einfach hier und in
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