Maengelexemplar
nicht sicher, ob mir das auch nur ansatzweise gelingt. Sobald ich Anettes Praxis verlasse, vergesse ich sofort alles, was wir besprochen haben. Alle roten Fäden, aus denen ich mir doch eigentlich einen schicken Kopf-Pullover stricken wollte, sind plötzlich weg oder wieder verknotet. Das finde ich unerträglich, schließlich brauche ich diese Zusammenhänge, um mich zu bessern. Um die Hausaufgaben zu machen. Aber irgendwie scheine ich die Aufgabenstellung jedes Mal aufs Neue zu verbummeln.
Natürlich haben Anette und ich viel geschafft. Wir haben die ganz große Scheiße zusammen gemeistert. Den Ausbruch des Vulkans Karo. Aber nachdem wir mich in den letzten Monaten in den Griff bekommen haben, stehe ich erneut vor dem Anfangsproblem: Ich leide unter mir, ich bin immer noch anstrengend. Der einzige Unterschied ist, dass ich inzwischen in der Theorie ganz gut bin: Ich weiß ziemlich detailliert, weshalb ich so bin. Ich kenne Frankenstein inzwischen ganz gut, aber ich bin immer noch sein Monster.
Anette sieht das ähnlich. Sie findet, dass wir meinen Zusammenbruch ganz gut aufgefangen haben. Sie findet außerdem, dass ich auf einem sehr guten Weg bin. Aber sie glaubt auch, dass da noch viel im Argen liegt, und sie empfiehlt, die Therapie zu verlängern. Wenn ich dazu Lust habe.
Ich habe Lust. Schlimmer: Ich bin stolz, so zerrüttet zu sein, dass eine weitere Kurzzeittherapie nötig ist. Ich bin keiner von diesen Trend-Psychos. Ich bin
the real shit.
Das denke ich, und sofort erschrecke ich vor diesem widerlichen Gedanken.
Ich bin merkwürdig, was Verletzungen angeht: Sie machen mich stolz. Vermutlich geht es mir dabei einfach um Aufmerksamkeit. Jede Schürfwunde meiner Kindheit habe ich immer an die große Glocke gehängt. Ich fand es aufregend, für kurze Zeit der Mittelpunkt zu sein. Und eine krustige Wunde ist ein ziemlicher Aufmerksamkeitsmagnet. Ich habe außerdem immer recht schnell von meinen Erfahrungen mit dem fürchterlichen Onkel erzählt. Wie ein lässiger und gelangweilter Cowboy warf ich meinen Freunden diese Geschichte von meinem Pferd hinunter vor die Füße. Ich war damit ja schon fertig, und Leid schafft eine Fangemeinde.
Als ich Anette davon erzähle, wird sie sehr ruhig und sieht mich durchdringend an. Ich verstehe das nicht. Für mich braucht sie diesen Blick nicht aufzusetzen. Ich kenne mich schon. Mir kann das alles nichts anhaben. Mir war langweilig, und ich hatte Lust auf einen Karo-Fanclub. Also was?
Und dann verstehe ich mal wieder viel zu spät Anettes Blick: Das ist traurig! Es ist traurig, wenn jemand für Zuneigung zu solchen Mittel greifen muss. Normale, glückliche Kinder sollten das nicht tun müssen. Normale Eltern sollten das bemerken. Wieso habe ich das all die Jahre nicht gemerkt? Weshalb gehe ich dauernd wie ein Versicherungsvertreter stolz mit meinen Wunden hausieren, statt mir gebührend leid zu tun?
Ach, Anette, sag es nicht! Ich weiß schon: Ich kann mich selbst nicht spüren.
Neben meinem normalen Leben habe ich auch die Arbeit wieder aufgenommen. Natürlich nicht die echte, tolle Arbeit, sondern die Kellnerei in der Kneipe. Arbeit mit Menschen. Das, was alle total gerne mögen: mit Menschen zu tun haben. Ich mag Menschen nicht besonders, aber ich habe keine Wahl, wenn ich nicht arbeite, werde ich verrückt. Verrückter.
Also kellnere ich dreimal die Woche im »Heidewitzka«.
Mit Ironie ist das so eine Sache. Ich glaube fest, dass Ironie ein stinkendes Abfallprodukt des guten alten Humors ist. Ironie ist sehr einfach, aber nicht besonders schön.
Na, du riechst aber gut,
wenn jemand verschwitzt ist.
Haha
, wenn etwas nicht lustig ist.
Du bist aber gut drauf heute
, wenn man beschissen geschlafen hat und zu Recht eine Fresse zieht.
Nee, ich lauf immer so rum
, wenn man jemanden fragt, ob er sich extra rausgeputzt hat. Ironie wird immer beliebter, und sie ist schuld daran, dass mein Dasein als Kellnerin ungleich hässlicher ist, als es ohne Ironie hätte sein können.
In das »Heidewitzka« gingen bis vor wenigen Jahren nur fertige, unglückliche, alte Männer. Es war eine typische Eckkneipe, die immer verraucht war, wo immer Fußball lief, und in der man auf die Fresse bekam, wenn man grün wählte. Die traurigen Männer tranken, ergeben in ihr Schicksal, leise ihre Biere oder spielten Karten am Stammtisch. Und sie waren reizend zu uns jungen Dingern. Ihre Komplimente waren echt und saßen so locker wie ihre Zähne. Hin und wieder gab es einen Klaps auf den Po,
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