Maengelexemplar
Panikanfalls, aber es ist Glück. Ich bin glücklich und zufrieden und bereit für meinen Weihnachtssanddornschnaps.
Mama hat ihre Wohnung königlich geschmückt, auch sie wurde augenscheinlich von der Rute des Erfolgsdruckes angetrieben. Sogar ihre Katze trägt eine rote Schleife um den Hals, und die kleine, hüfthohe Leiter, die meine kleine Mama braucht, um in der Küche an die höher gelegenen Sachen zu kommen, ist geschmückt wie ein Altar in einem Puff. Es gibt so viel zu entdecken, und ich fühle mich zum ersten Mal seit Jahren wie ein Kind an Weihnachten.
Wie bei einer richtigen Party musste jeder etwas mitbringen. Die Tanten kümmerten sich um das, was sie am besten können: den Schnaps. Oma hatte den Weihnachtskartoffelsalat im Gepäck, und ich habe die Liedertexte gepimpt. Normalerweise gibt es jedes Jahr lose Kopien der Noten der wichtigsten Lieder. Keine von uns kann Noten lesen, also habe ich dieses Jahr ausschließlich die Texte in weihnachtlicher Schönschrift ausgedruckt und in rote, mit Tannenzweigen und Glöckchen verzierte Mäppchen gebunden. Die Damen sind sehr beeindruckt, und wir kommen uns beim Singen vor wie ein richtiger Chor.
Mamas Baum sieht sehr hübsch aus, und diesmal lobt Oma den Wuchs.
Wir wickeln unsere Geschenke aus und schielen verstohlen zu unseren jeweiligen Bescherungstischnachbarn, um deren spontane Reaktion auf die Geschenke nicht zu verpassen. Mama schenkt mir ein gerahmtes Bild von uns beiden, als ich etwa fünf Jahre alt war. Ich muss ein bisschen weinen. Mama auch. Und Oma auch. Die Tanten kippen Schnaps und freuen sich über die heulenden Herrmannfrauen.
Und dann passiert etwas, das sonst nicht passiert. Der nahtlose Übergang zum BH -Ausziehen wird unterbrochen durch ein natürliches Gespräch. Wir sitzen um den Wohnzimmertisch herum und reden. Einfach so. Darüber, wie es uns grade geht, wie schön wir es bei Mama finden und wie hässlich das fast vergangene Jahr war. Mama gesteht, dass sie in der Zeit, in der ich bei ihr gewohnt habe, selbst unter Panikattacken litt, weil sie ihr Kind so leiden sah. Das rührt mich sehr. »Ich hab dich sehr lieb, mein großes, schönes Kind!«, sagt Mama und drückt mich an ihre Brust. Ein Glück, dass wir unsere BHs noch anhaben.
Dann niest eine meiner Tanten. Fünfmal hintereinander. Das ist sehr lustig und wird bedenklich, als die Tante ganz rot anläuft. »Katzenallergie«, stammelt sie. Erst lachen wir, weil das gar kein so schlechter Witz ist, wenn man bedenkt, dass er von einer Achtzigjährigen kommt, aber wir werden ein bisschen muffelig, als sich rausstellt, dass die Tante es ernst meint. »Warum hast du das nicht schon früher gesagt?«, schimpft Mama. Die Tante nuschelt was davon, dass sie uns das Fest nicht verderben wollte.
Und plötzlich herrscht Aufbruchstimmung. Die Wohnung muss dringend gewechselt werden, aber wir sind wie bekifft und finden die Aufregung, die diese unerwartete Wendung mit sich bringt, herrlich. Die Gesellschaft teilt sich auf und fährt mit zwei Autos zu Oma.
Und so landen wir dann doch da, wo wir jedes Jahr um diese Zeit sind. Während die BHs ausgezogen werden und die Herrenrunde mit viel Gejohle eröffnet wird, blinzele ich heimlich zu meiner Oma. Die ganze Autofahrt über hat sie gejammert, dass sie auf einen Lokalitätenwechsel überhaupt nicht vorbereitet sei und dass es bei ihr aussehen würde wie Sau, aber jetzt, wo sie ihre Lieben mit frei wankenden Brüsten wieder bei sich zu Hause hat, sieht sie so glücklich aus, wie ich mich fühle. Beide seufzen wir gleichzeitig, aber unabhängig voneinander, und dann holen wir unser Kleingeld, denn wir sind schließlich nicht zum Spaß hier.
Kurz vor Silvester ziehe ich in Erwägung, meine Tabletten abzusetzen. Ich sehe keinen Grund, sie weiterhin zu nehmen. Frau Dr. Kleve empfahl mir damals, die Tabletten etwa ein halbes Jahr lang zu nehmen, dieses halbe Jahr ist nun vorbei. Es geht mir gut. Ich habe keine Angstanfälle mehr, bin nicht mehr unruhig, und mein Leben ist sortiert. Ich arbeite wieder ab und zu frei für diverse Event-Management-Agenturen, mein Liebeskummer ist bis auf ein kleines Ziehen hier und da verschwunden, die muffige Decke Traurigkeit liegt sorgfältig zusammengefaltet irgendwo, wo ich sie nicht sehen kann, und ich nehme wieder teil am Leben der anderen.
Ich sollte also bereit sein. Bin ich bereit? Bin ich denn glücklich? Nein. Aber Glück ist kein Dauerzustand. Glück ist der Schaum im heißen Badewasser. Und ein heißes
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