Maengelexemplar
Bad ist auch ohne Schaum ziemlich super. Aber ist mein Badewasser überhaupt heiß? Ich verlaufe mich ein wenig in meinen Metaphern und fange nochmal von vorn an: Ich bin nicht glücklich, aber auch nicht unglücklich. Ich bin o.k.
Und ich beschließe, dass
o.k.
noch nicht gut genug ist, um die Tabletten abzusetzen. Ich werde bis zum Frühling warten. Das scheint mir eine sichere Jahreszeit für entzugsbedingte Absetzungserscheinungen, wie der Beipackzettel der Antidepressiva sie verspricht.
Noch drei Monate Zeit, um aus
o.k.
ein
Ziemlich gut
zu machen.
Silvester ist eine Problemfeierlichkeit, das ist allgemein bekannt. Und in diesem Jahr extra problematisch, weil ich keinen Freund zum Ins-neue-Jahr-Reinküssen habe.
Dieser Jahreswechsel ist etwas Besonderes. Ich habe das Bedürfnis, mich mit Bedacht vom alten Jahr zu verabschieden. Das aktuelle Jahr und ich, wir haben noch eine Rechnung offen. Und die will wohlüberlegt beglichen werden.
Also beschließe ich, Silvester allein zu feiern. Nelson findet das jämmerlich, und ich versuche fast hysterisch, ihm meinen Standpunkt klarzumachen: »Es ist, als hätten das Jahr und ich eine ganz besondere Beziehung gehabt! Es hat mich geohrfeigt und bespuckt!«, sage ich theatralisch.
»Ein Grund mehr, es mit einer Party in den Hintern zu treten!«, findet Nelson.
»Du verstehst das nicht!«, murre ich. »Ich glaube, das alte Jahr wollte mir etwas sagen, mich ... ähm ... retten!«
»Indem es dir einen Nervenzusammenbruch und eine prima Depression beschert?«
»Ich weiß, dass das doof klingt, aber ja! Augenscheinlich musste ich mit Gewalt zur Einsicht geprügelt werden, dass ich nicht immer die Kontrolle über alles haben kann.«
»Ich weiß ja nicht«, zögert Nelson. Aber langsam versteht er meinen Punkt.
»Ich habe ja nicht vor, wie eine einsame Omi die ganze Nacht über allein an meiner Sektbowle zu nippen«, sage ich. »Ich möchte nur im entscheidenden Moment des Jahreswechsels allein sein und die Lektion akzeptieren und mich gleichzeitig freuen über eine neue Chance und ein neues Jahr! Klinge ich wie eine Hausfrau, die zu oft den Astro-Kanal gesehen hat?«
»Nein. Obwohl du wie eine aussiehst. Ich verstehe, was du meinst. Aber willst du nicht wenigstens nach Mitternacht auf eine Party gehen?«
Ich weiß noch nicht. Ich bin nicht so sicher, was mit mir passiert, wenn ich mich erst mal in den ganzen Verabschiedungs-Begrüßungs-Kram reingesteigert habe. »Mal sehen«, sage ich. »Ich wüsste gar nicht, wohin ich gehen soll.«
Das stimmt so nicht. Ich weiß, dass David eine Party schmeißt. Aber ich kenne kaum Freunde von David, und ich weiß nicht, wie schlau es ist, David unter so emotional aufgepeitschten Umständen wie Silvester zu sehen. »Ich entscheide das spontan!«, lasse ich verlauten und klinge nun wirklich wie eine Hausfrau auf schlechtem Speed.
Und dann feiere ich doch nicht allein Silvester, sondern mit Anna. Die hat nämlich auch noch eine Rechnung mit dem sterbenden Jahr offen, und so wollen wir zusammen esoterisch sein. Ich entweihnachte also meine Wohnung und ziehe ihr das Silvesterkostüm an. Es gibt Girlanden und Konfetti und bunte Papierlocken, die ich durch die ganze Wohnung puste. Mir selbst ziehe ich auch etwas Hübsches an, das Wichtigste ist aber ein roter Schlüpfer. Den soll man, einer italienischen Tradition zufolge, über die Zeit des Jahreswechsels tragen, das bringt Glück. Entscheidend ist, dass der Schlüpfer neu und ungetragen ist. Darauf lege ich dieses Mal besonderen Wert, denn letztes Jahr hatte ich einen roten Schlüpfer an, den ich schon länger besaß. Und wohin mich das geführt hat, haben wir ja gesehen. Ich habe auch für Anna rote Unterwäsche gekauft, falls sie die Tradition nicht kennt. Ich kann sie schließlich nicht ins offene Messer rennen lassen. Nicht heute.
Weil es ein besonderes Silvester ist, machen Anna und ich Bowle mit Aldi-Champagner und essen ganz feierlich kleine Brotschiffe mit Sauerrahm und Kaviar drauf. Wir fühlen uns wie reiche Russinnen und rauchen Damenzigaretten mit Blumenfilter. Wir sind aufgeregt, denn inzwischen glauben wir beide fest daran, dass das gehende Jahr schuld an all unserem Unglück war und dass es ab jetzt nur noch besser wird. Unser gesamtes Glück liegt also auf dem Rücken dieses Jahreswechsels.
Nach dem Essen nehmen wir uns ein wenig Zeit und gehen in uns. Ich habe vor, dem alten Jahr einen Brief zu schreiben und ihn mit ein paar anderen Utensilien des Bösen zu
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