Maengelexemplar
ich dekoriere wie eine Besengte. Bei mir zu Hause sieht es aus wie auf vier Weihnachtsmärkten. Ich dekoriere nicht besonders gut, aber dafür viel. Jede Ecke soll mich weihnachtlich anbrüllen und einlullen. Schon am ersten Dezember laufen bei mir die schönsten Weihnachtslieder der Carpenters und der Wiener Sängerknaben abwechselnd rauf und runter. Ich spiele sogar das »Ave Maria«
,
gesungen von Frank Sinatra. Kein Weihnachtssong, ich weiß, aber mir wird dabei immer sehr heimelig. Ich backe pausenlos Rotweinkuchen und Plätzchen, fackele ein Räucherstäbchen nach dem anderen ab und erstelle Excel-Listen, um den Überblick zu behalten, wann ich mit wem auf welchem Weihnachtsmarkt verabredet bin.
Ich liebe die Vorweihnachtszeit. Und ich liebe die Großstadt während der Vorweihnachtszeit. Ich kann nicht genug bekommen von dieser bunten Weihnachtsbeleuchtung, mit der sich jede halbwegs laufkundschaftsreiche Einkaufsstraße schmückt. Ich habe sogar mal einen Brief an die Stadt geschrieben mit der Bitte um einen Etat für das Schmücken normaler Wohnstraßen. Die feinen Großstädter machen das nämlich kaum noch selbst. Es ist Konsens, dass Weihnachten ein kommerzielles Spektakel ist, eine Verschwörung des Einzelhandels. Bei dieser Gelegenheit schlaumeiert immer mindestens einer, dass der Weihnachtsmann eh von Coca-Cola erfunden worden sei und damit ja wohl endgültig alles klar sei. Kaum einer wisse, worum es bei Weihnachten gehe, Kinder bekämen eh nur noch Videospiele geschenkt, und um seine Familie zu sehen, brauche man ja wohl keinen Feiertag. Davon abgesehen, dass ich sehr wohl einen Feiertag brauche, um meine ganze Familie zu sehen, kann ich diesen modernen Ansichten nichts abgewinnen. Ich mag Rituale, ich finde Blumen am Valentinstag schön und Romantikausflüge an Jahrestagen auch. Obwohl ich gar nicht so recht an ein
Für immer
glaube, würde ich irrsinnig gerne mal heiraten. Des Rituals wegen.
Und so stapfe ich jedes Jahr den gesamten Dezember lang durch die stromfressende Großstadt und bin selig. Ich verschenke Schokoweihnachtsmänner an meine Freunde und lade jeden Adventssonntag in die Weihnachtshölle meiner Wohnung, um Lebkuchen und Spekulatius mit Tannenzweigverzierung zu servieren. Es ist nicht so, dass ich den Heiligen Abend besonders herbeisehne. Im Grunde genommen ist das der Tag, an dem alles schon wieder vorbei ist. Obwohl ich ein sehr zielorientierter Stressmensch bin, wünsche ich mir, dass die Vorweihnachtszeit, die ja eigentlich nur der einmonatige Weg zum Ziel Heiligabend ist, nie zu Ende geht. Ich zelebriere jeden einzelnen Tag, als wenn es kein Morgen gäbe.
Der Heiligabend verläuft in meiner Familie seit Jahren gleichermaßen unweihnachtlich, obwohl wir uns wirklich große Mühe geben: Meine Mutter, ich und meine beiden verrückten Großtanten aus dem Ruhrpott feiern bei meiner Oma zu Hause.
Wir treffen uns gegen siebzehn Uhr enorm aufgebrezelt bei Oma, rauchen und trinken viel und absolvieren erst mal den »Wie geht es dir so?«-Parcours. Da wir uns alle so selten sehen, dauert das eine ganze Weile. Bestimmt zehn Minuten. Jede tut so, als wenn sie nicht viel zu erzählen hätte, denn wir sind alle scharf auf Omas Buletten und Kartoffelsalat. Nach dem Essen rauchen wir noch ein bisschen und gehen jedes Mal etwa eine Stunde früher als geplant zur Bescherung über. Wir trampeln ins bis dahin verschlossene Wohnzimmer und geben viel
oh
und
ah
von uns, wenn wir den geschmückten Baum sehen. Mama macht Oma immer dieselben fachmännischen Komplimente für den Wuchs des Baumes, und dann setzen wir uns um selbigen und singen drei bis vier Weihnachtslieder, unsere Favoriten sind »Stille Nacht, heilige Nacht«, »Ihr Kinderlein kommet«, »Leise rieselt der Schnee« und »O du fröhliche«. Wenn wir schon viel getrunken haben, trauen wir uns sogar »Es ist ein Ros’ entsprungen«. Obwohl wir ein fabelhafter Frauenchor sein könnten, singen wir ziemlich durcheinander. Unterschiedlich hoch, schnell und schön. Jedes Jahr kichern wir verschämt und irgendwie stolz. Die Bescherung verläuft genauso zügig und zielorientiert wie alles im Leben der Herrmann-Frauen, und so sind wir mit allem durch, wenn die anderen erst ihren Baum anzünden.
Wenn all diese Rituale erledigt sind, wird aus unserer Familie ein Herrenstammtisch. Wir öffnen unsere Hosenund Rockknöpfe, ziehen die BHs aus, spielen Gesellschaftsspiele und werden laut. Es wird geraucht, bis selbst mir schlecht wird, Oma
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